Stadt der Engel
losgeht.
Ich kann es mir nicht aussuchen, sagte ich. Übrigens durfteich ja öffentlich nicht über diese Akte sprechen, um die Mitarbeiterin, die sie mir verbotswidrig gezeigt hat, nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Nun habe ich erfahren, daß sie inzwischen, sehr jung, an Krebs gestorben ist. Also kann ich darüber reden.
Kafka, sagte Francesco. Der hätte so was erfinden können.
Ja, sagte ich. Auch, weil bei ihm kein Unschuldiger vorkommt. Wie im wirklichen Leben. Ich bog von der Second Street in den spanischen Vorgarten ab, sah die Masken der drei Racoons aus dem Gebüsch starren, betrat die Halle, winkte Herrn Enrico zu, der gerade seinen Tisch abräumte und sein Tagewerk beendete, kam in mein fremdes Apartment, als käme ich nach Hause, goß mir ein Glas Wasser ein, trank, als sei ich am Verdursten, und setzte mich zu meinem Maschinchen an den Tisch. Ich schrieb:
wie soll ich mich davor hüten, in einen rechtfertigungszwang zu geraten, welches die dümmste von allen möglichen verhaltensweisen wäre. aber gibt es denn für diesen fall eine mögliche, eine richtige, eine angemessene verhaltensweise. oder verfalle ich wieder in den fehler, nach den ansprüchen anderer zu fragen.
Ich legte mich auf mein breites Bett, es war dunkel draußen, aber noch nicht Schlafenszeit, ich sagte zu der Nonne Perma, deren Buch auf meinem Nachttisch lag: Die Tiger sind da, aber wo ist die Himbeere, ich versank in einen Halbschlaf, in dem Gedichtzeilen vorbeitrieben, die ich kannte, Nimm dein Verhängnis an, heiliger Fleming, was habt ihr von Verhängnis wissen können. Ich dämmerte hinüber in einen flüchtigen Traum, ein Gesicht erschien mir, das Gesicht meiner Freundin Emma, die auch tot war und die ich jetzt gebraucht hätte, aber was sie von mir gefordert hätte, glaubte ich zu wissen: Keine Wirkung zeigen! Das hätte sie gesagt.Wie sie es damals gesagt hatte, 1965 – mein Gott, mehr als ein Vierteljahrhundert war seitdem verstrichen! –, nach jenem ZK-Plenum genannten Spektakel, auf dem die Kultur zum Sündenbock gemacht wurde für alles, was fehllief. Wo du es für nötig hieltest, die Angegriffenen zu verteidigen, natürlich gegen eine Mauer ranntest und deinerseits angegriffen wurdest, schließlich aus dem Saal gingst mit der Zeile im Kopf: Die Hände weggeschlagen. Ach was, sagte Emma, nimm dich nicht so wichtig. War doch gut, daß du was gesagt hast, sonst hättest du dich beschissen gefühlt. Und Hände wachsen nach. – Du glaubst wohl an Wunder, sagtest du. – Was denn sonst, sagte Emma. Daß ich hier vor dir sitze, verdanken wir einer Kette von Wundern.
Du wußtest, was sie meinte: Daß sie die Zuchthausjahre im Dritten Reich überlebt hatte. Daß sie, ehe sie erneut verhaftet wurde, aus dem zerbombten Berlin fliehend, in dieser Laubenkolonie ein Versteck gefunden hatte. Daß sie Tränen vergossen hatte, als sie bei den »Unseren« wieder im Gefängnis saß »unter falschem Verdacht« –, und die Nachricht von Stalins Tod sie erreichte. Ihre Gelenke waren angegriffen, Rheuma, die feuchtkalte Zelle. Sie ging am Stock, sie hatte Schmerzen, die ignorierte sie. Hatte ich sie dringlich genug befragt, warum sie auch durch die Haft bei den »Unseren« nicht von ihrem Glauben an Stalin kuriert worden war? Ich hätte ihre Antwort jetzt gebraucht. Ach Mädchen, hatte sie einmal gesagt, hast du eine Ahnung, woran man sich klammert, wenn man so tief in der Scheiße sitzt wie wir damals. Wenn wir diese Hoffnung auf den weisen Völkerlenker aufgegeben hätten, hätten wir uns doch damit selbst aufgegeben. – Und du begriffst, daß dieses halbe Deutschland, dieser Staat, auch wenn er streng zu ihnen war, auch wenn er viele Fehler hatte, ihre einzige Zuflucht war. Daß sie an dem Glauben festhalten mußten, er werde sich zu der ersehnten Menschengemeinschaft entwickeln. Daß sie ihn verteidigen mußten.
Emma, die sich, anders als andere, nicht scheute, den Tatsachen ins Auge zu sehen, wurde eine meiner zuverlässigstenBeraterinnen. Aber damals, erinnerte ich mich, nach jenem unheilvollen PLENUM, brauchtest du mehr. Du brauchtest, was man professionelle Hilfe nannte.
Der Arzt sagte, überall auf der Welt seien die herrschenden Systeme daran interessiert und darauf eingerichtet, die Individualität ihrer Untertanen zu schwächen oder möglichst ganz auszulöschen. Am besten sei es, mit diesen Kräften, die in jedem Fall stärker seien als der einzelne, nicht auf Konfrontation zu gehen, sondern sich zurückzuziehen
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