Stadt der Engel
einer Ekelgrimasse verzogen, ihnen den Dollar vorenthielten, den sie leicht hätten entbehren können.
Da wurde Malinka heftig. Sie verstehe das vollkommen. Sie gebe auch keine Almosen. Niemand, der es nicht selbst erfahren habe, könne sich vorstellen, wie hart das Leben in diesem Land für jemanden sei, der mit nichts anfangen müsse. Ihre erste Zeit hier sei so unbeschreiblich grausam gewesen, daß sie alle Sentimentalität gegenüber denen, die heute unten seien, in sich abgetötet habe. Sie habe es sich angewöhnt, hinter ihrem Lenkrad zu sitzen und emotionslos an allem vorbeizufahren: an Autounfällen, an Leichen am Straßenrand, an der größten Armut und an den größten Verbrechen, zu denen ja oft der unermeßliche Reichtum gehöre. Ihr Mantra sei: I don’t care, I don’t care. Und sie bemitleide nicht die homeless people, wie wir es täten. Sie gebe ihnen auch kein Geld. Sie behalte jeden einzelnen verdammten Cent für sich. Sie habe sogar eine Wut auf die, würde sie am liebsten durchschütteln und anschreien: Laßt euch nicht so gehen! Verliert doch eure Würde nicht! Sollten sie sich selber aus dem Sumpf ziehen. Ihr habe auch niemand dabei geholfen.
Peter Gutman steckte seinen Kopf aus der Küchentür, um Malinka anzusehen, aber niemand von uns sagte ein Wort. Wir wechselten Blicke, ein wenig ratlos.
Johanna erzählte, wie sie in New York einmal einem Mann Geld gegeben und wie der sich in dem üblichen Jammerton mit God bless you! bei ihr bedankt hatte. Den hatte sie angeschrien: Er solle nicht God bless you zu ihr sagen, er solle sie lieber verfluchen. Da hatte er sie erstaunt angesehen und dann gleichmütig gesagt: My business, madam!
O Brecht! lachten wir.
Mir war klar, vieles, was Peter Gutman an diesem Abend noch in die Debatte warf – wir hatten angefangen, über die schwindende, oder eigentlich geschwundene, Rolle der Vernunft in unserer abendländischen Kultur zu reden –, vieles davon war an mich gerichtet, war sein Kommentar zu jenem Artikel, den er am Tag vorher aus dem Fax genommen hatte. Er wußte Bescheid, wollte aber noch nicht mit mir reden. Wollte mir Abstand beibringen. Aber dafür war es zu früh. Das Tonband in meinem Kopf war angesprungen und würde nicht so bald wieder stillstehen. Beim Abschied sagte er: Be careful!
Wie weiter? Eine Pause entsteht, breitet sich aus. Der übliche Verdacht, daß die Schreibarbeit an ihr Ende gekommen ist, weil es mir nicht gelingt, die Schranke des »Nie sollst du mich berühren« zu durchbrechen, und weil dann das Schreiben keinen Sinn hätte. The overcoat of Dr. Freud, denke ich spöttisch, kann auch dazu mißbraucht werden, verwundbare Stellen zu bedecken.
MANCHMAL GREIFT DIE VERGANGENHEIT NACH EINEM
MANCHMAL GREIFT DIE VERGANGENHEIT NACH EINEM denke ich, dann beginnt der festgelegte bekannte Ablauf. Die Öffentlichkeit reagiert blitzschnell und freudig auf das Wort »Moral«,reißt dem der Unmoral Bezichtigten zum guten Zweck die Haut vom Leib.
Und die Wahrheit, der sie alle dienen?
Wie weiter? Es muß ja immer alles weitergehen. Im ms. victoria mußte ja alles weitergehen. Ich mußte ja auf den schon bekannten Wegen weitergehen. How are you doing today, diesmal war es der uniformierte Portier vor dem feinen Restaurant in der Second Street, das der Stadtführer zu den zehn besten Lokalen von Los Angeles zählte und bei dem man mit den größten Stretch-Limousinen vorfuhr, die man diesem Wächter-Portier mit seinen blütenweißen Handschuhen vertrauensvoll überließ, der übrigens keinen Grund hatte, ausgerechnet mich nach meinem Befinden zu fragen, er mußte mir doch ansehen, daß ich nicht zu seiner Kundschaft gehörte. O fine, sagte ich überrascht, and you? – Terrific! sagte er überzeugt und überzeugend, ein Wort, das ich anfangs mit terrifying verwechselte, was bei mir zu Mißverständnissen führte, bis ich endlich im Wörterbuch beide Wörter hintereinander fand, das eine aber, terrific, war mit »toll«, »phantastisch«, auch »wahnsinnig« zu übersetzen, während das andere, to terrify, »jemandem schreckliche Angst einjagen« bedeutete, eine Wendung, die sich in meinem Kopf sofort zu tummeln begann, wahnsinnige Angst einjagen, phantastisch in Angst gejagt werden, schreckliche Angst toll finden. Stop! befahl ich mir. Stop. Stop. Das Tonband anzuhalten lag nicht in meiner Macht.
Jetzt wurden die drei Racoons dreist, die vor dem ms. victoria herumsaßen oder in den Büschen nach Freßbarem suchten, angeblich waren die
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