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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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und im stillen geistig unbeschädigt zu überleben. Es sei ja nicht ausgeschlossen, daß eine Zeit heraufkomme, in der die Menschen sich wieder zeigen könnten: Dann würde sich erweisen, daß die Unterdrückung ihrer Individualität keine genetischen Veränderungen verursacht habe, daß ihre Erbmasse unberührt geblieben sei und daß eine neue Generation imstande sei, ohne geistige Fesseln zu leben.
    Ich erinnerte mich, daß dir die Medikamente, die der Arzt dir verschrieb, nicht bekamen, ich erinnerte mich wieder an die Wochen in jener Klinik, in die der Arzt dich schließlich einwies, weil er die Verantwortung nicht mehr übernehmen wollte. (»Einen verwundeten Soldaten schickt man auch nicht wieder in die Schlacht!«) Ein winziges Zimmer mit einem vergitterten, weinumrankten Fenster, aber die Gitter hättest du nicht gebraucht, aus dem Fenster springen wäre deine Wahl nicht gewesen, du hingst an der Unversehrtheit deines Körpers. Viel später hat mir ein Arzt gesagt, wieviel Tabletten man braucht, und von welcher Sorte, er wollte sich wohl ein wenig wichtig machen. Das einzige, was du dem Chefarzt der Klinik erzähltest, war, daß du eine Zeitungsphobie hattest: Die Zeitungen waren voll gewesen von Zustimmungsadressen an jenes Gremium und für jene Maßnahmen, gegen die du dich aufgelehnt hattest. Unter den Artikeln und Briefen hatten Namen gestanden, die du nie unter solchen Artikeln und Briefen erwartet hattest. Wenn du eine Zeitung sahst, brach dir der Schweiß aus.
    Ich spürte, daß die neue Zeitungskampagne, die schoneingesetzt hatte, das alte Trauma wieder aufleben ließ. Die Zeitungen, die man dir in der Klinik täglich aufs Zimmer schickte – als Therapie! –, stecktest du schnell, ohne sie anzusehen, unter die Decke. Da du nicht schlafen konntest – ich konnte es jetzt wiederum nicht –, pilgertest du nachts auf dem Krankenhausflur auf und ab und trafst oft eine andere Patientin, die Frau eines Offiziers der Grenztruppen, der ausländische Besucher an die seit vier Jahren bestehende Mauer zu führen und ihnen die Grenzmaßnahmen der DDR zu erklären hatte. Seitdem wurde seine Frau täglich und nächtlich angerufen und bedroht und beschimpft, immer wieder, so oft man auch ihre Telefonnummer wechselte. Bis sie eine Telefonphobie bekam und nicht mehr schlafen konnte. Euer gemeinsamer Chefarzt, der überzeugt war, daß falsch Gelerntes im Gehirn durch richtiges Lernen zu löschen sei und daß dazu ein Training gehörte, ließ sie im Ärztezimmer auf der Liege schlafen und von der Nachtschwester mehrmals anrufen, woraufhin die Frau in Panik geriet und die Nächte auf dem Flur verbrachte. Als du es über dich brachtest, wenigstens die Schlagzeilen in den Zeitungen zu lesen, war das ein erstes Zeichen von Besserung. Das zweite Zeichen, fand die hocherfreute Assistentin des Professors, die ihrem Chef hörig war, sollte der Einkauf neuer Schuhe sein, die sie an dir bemerkte, Schuhe mit einem auffallenden schwarzweißen Blockmuster, die ich lange trug.
    Peter Gutmans fünfzigster Geburtstag. Wir waren zu viert, das entsprach seiner asketischen Lebensweise, auch seinem Hang zum Einzelgängertum. Außer mir zu meiner Überraschung Johanna, eine unserer jungen Stipendiatinnen, die über die Behandlung sozialer Themen in der jüngeren amerikanischen Literatur arbeitete – ein Alibithema für unser CENTER, meinte Peter Gutman –, und Malinka, Ende dreißig, eine schlanke, dunkelhaarige, reizvolle, scharfkantige Person. Sie kam aus dem ehemaligen Jugoslawien und lebte schon einige Jahre in dieser Stadt. Ich weiß nicht mehr, woher Peter Gutman sie kannte, sie hatte nichts mit dem CENTER zu tun, siekoordinierte irgendwelche Forschungsaufgaben in einem naturwissenschaftlichen Institut.
    Peter Gutman bestand darauf, uns ohne fremde Hilfe zu bewirten, zuerst mit Melone und Schinken, mit einem guten Wein, und dann verschwand er in der Küchenabteilung, um auf dem Wok ein schnelles chinesisches Gericht mit Gemüse und Hähnchenfleisch herzustellen, während wir Frauen den Gesprächsfaden weiterspannen: Daß das Mitgefühl einigermaßen wohlhabender Menschen mit den »Unterprivilegierten« immer mehr schwinde; daß man zwar darauf achte, sich ihnen gegenüber einer korrekten Ausdrucksweise zu befleißigen, aber konkrete Hilfe, die auch ans eigene Portemonnaie ginge, zunehmend verweigere. Wir alle hatten beobachtet, daß gutbetuchte Zeitgenossen sich wie blind und taub an Obdachlosen vorbeidrückten, ihr Gesicht zu

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