Stadt der Engel
darf man die Welt sehen, wie sie sein sollte.
Das ist Marxismus, sagte ich.
Na und? sagte Malinka. Ur-Marxismus, wenn du willst. Gar nicht so weit weg vom Urchristentum.
Wenn ich euch reden höre, sagte Peter Gutman, muß ich denken, der Kommunismus ist vielleicht doch noch nicht am Ende.
Immer diese Wörter, sagte ich. Könnte man nicht mal eine Weile ohne diese Wörter auskommen?
Nein, sagte Malinka, Wörter sind ja so wichtig. Zum Beispiel »riots«, oder höchstens noch »unrests« – das hat sich jetzt festgesetzt. Ist ja klar, wer ein Interesse daran hat, daß es sich bei diesen Erhebungen um Aufruhr, Tumult, Krawall gehandelt haben muß, nicht etwa um »revolt«, »rebellion«, »insurrection«, »uprising« oder gar »revolution«: Es soll nackte, zügellose Gewalt gewesen sein, die im April South Central Los Angeles in Angst und Schrecken versetzt hat, kein politisches oder soziales, kein ökonomisches Motiv wird den Aufständischen zugebilligt. Sie haben sich am Heiligtum der Heiligtümer vergriffen, an der Grundlage dieser Gesellschaft, am Privateigentum. Ja, sagte Malinka, natürlich taten mir die koreanischen Geschäftsleute leid, die es unverdient getroffen hat, aber die andere Person in mir, die von früher, verstand die Aufständischen. So haben doch Revolutionen immer angefangen, die am meisten Benachteiligten holten sich von den Reichen, was ihnen bisher vorenthalten worden war.
Und wenn eine Revolution ihr Ziel verfehlt hat und am Ende ist, sagte ich, stellen diejenigen, die sie beerben, als erstes die alten Besitzverhältnisse wieder her.
Ich fragte Malinka, es war ein Zwang, ich mußte jeden danach fragen, den ich traf, ob sie schon einmal ganz wichtige Ereignisse ihres Lebens vollkommen vergessen habe. O ja, sagte sie, andauernd werde ich darauf gestoßen, wenn ich nach Hause fahre und meine Familie besuche. Die erinnern sich an viele Ereignisse, bei denen ich dabei war, von denen aber in meinem Gedächtnis nicht eine Spur geblieben ist. Für sie ist diese Erinnerung ein kostbarer Besitz, für mich eine Last, die ich abwerfen mußte.
Doch auch ein Verlust? fragte ich.
Sie habe eisern trainiert, das Bedauern über diese Art Verluste zu unterdrücken, sagte Malinka.
Ganz hat sie es nicht geschafft, sagte ich auf der Rückfahrt zu Peter Gutman. Sonst hätte sie sich nicht derartig über die Namensgebung der April-Aufstände ereifert. Übrigens habe es mich schon länger beschäftigt, mit welcher Intensität und Eile die politische Klasse und ihre Medien eine ihnen genehme Namensgebung für Ereignisse betrieben, von denen sie überrascht, vielleicht überrollt worden seien. Jüngstes Beispiel dafür sei der Volksaufstand im Herbst 1989, gegen Ende der DDR. Da verfestigte sich die Bezeichnung »Wende«. Und der Staat, dessen Benennung interessanterweise so bald wie möglich, mit ihm zusammen, verschwinden mußte, kam unter den Namen »SED-Diktatur« in die Gazetten, »Unrechtsstaat«. Und im persönlichen Gespräch sagt man heute: »zu DDR-Zeiten«.
Aber ich erinnere mich, sagte ich zu Peter Gutman, der stumm und, wie ich zu spüren meinte, etwas angespannt in meinem roten GEO neben mir saß und meine manchmal gewagten Fahrkünste kommentarlos ertrug – ich erinnere mich, wie schon einmal, viele Jahre früher, am 17. Juni 1953, das erste Mal, als ich Massen protestierend auf den Straßen gesehen hatte, die Benennung dieses Ereignisses den Politikern und den Zeitungen Kopfzerbrechen machte: Wie in den ersten Tagen nach dem 17. Juni noch von »Arbeiterprotesten«, von »berechtigten Kritiken« die Rede war, und wie wir dann informiert wurden, daß wir Zeugen einer »Konterrevolution« gewesen seien, was natürlich die öffentliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen sehr erleichterte. Und wenn Malinka von der Spaltung in sich selbst gesprochen habe – an die Spaltung in mir damals könne ich mich gut erinnern.
Wie du erschrakst, als du, in Leipzig mit der Straßenbahn aus der Deutschen Bücherei kommend, wo ein Flüstern hinter dir dich alarmiert hatte, im Vorbeifahren Arbeiter sahst, die auf einer Baustelle ein Transparent aufspannten: Wir streiken! Wiedu durch die Leipziger Innenstadt zum Germanistischen Institut in der alten, halb zerstörten Universität liefst, wo fast niemand war – niemand jedenfalls, der wußte, was sich draußen abspielte, denn die Sender der DDR sendeten ja leichte Musik, und Westsender hörte man im Institut nicht. Wie du um die Ecke zur Ritterstraße
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