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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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die Punkte, an denen Wu Sun die Nadeln ansetzen sollte, nun auch noch einige gegen den viel zu hohen Blutdruck. Relax! sagten beide beschwörend im Chor, relax!, aber ich konnte mich nicht entspannen, ich wußte noch nicht, daß ich nicht mehr hierherkommen würde, weil eine Unruhe mich ergriff, die es mir unmöglich machte, mich eine halbe Stunde lang ruhig auf eine Liege zu legen.
    Sally rief an: How are you today. – O Sally, sagte ich, there is something wrong.
    Das habe sie schon an meiner Stimme gehört, sagte sie.
    And what about yourself, fragte ich. How are you?
    Very bad. Sie kam. Wir gingen an der Küste entlang, oben im Ocean Park, immer auf und ab, rückhaltloses Sprechen in der fremden Sprache, kalifornisches Winterlicht, es regnete seit Wochen, heavy rain, das Wasserdefizit von acht Jahren mußte aufgefüllt werden, im Fernsehen sah man nur noch Leute mit Sandsäcken durch die Dunkelheit laufen, Feuerwehrleute Keller auspumpen oder Häuser die unbefestigten Hänge hinunterrutschen. Der Ozean war bräunlich und schlug mit hoher Brandung gegen den leeren Strand.
    Sally sagte: It is hopeless, das sei das erste und Grundlegende, was man wissen müsse. Es gibt keine Hoffnung, you know, es gibt nur die Pflicht, weiterzugehen, dir auf den Grund zu gehen. Das ist das einzige, was wir tun können.
    Das weiß ich manchmal, sagte ich, vergesse es wieder.
    Sie vergesse es jeden Tag, sagte sie.
    Sally war mein Versuchsmensch. An ihr probierte ich aus, wie ich mich fühlte, wenn ich unaussprechbare Wörter laut aussprach, im Schutz der fremden Sprache und des fremden Ozeans sah ich mich dort stehen, an den Stamm eines Eukalyptusbaums gelehnt, und ihr die verschiedenen Sorten von Akten erklären, the bad files and the good files, sie mußte lachen: Ach, ihr Deutschen!
    Nein, sagte ich, lach nicht, das ist nicht zum Lachen! Sally ist Jüdin, sie wird mich verstehen, dachte ich unlogisch. Hör zu, sagte ich, kannst du dir nicht vorstellen, wie dir wird, wenn dir aus so einer Akte zwei Buchstaben entgegenschlagen, die in dieser Sekunde wie ein Gerichtsurteil sind, ein moralisches Todesurteil. IM – weißt du überhaupt, was das heißt.
    No, sagte Sally unbefangen, I have no idea.
    Glückliches Amerika! Stasi, ja, das habe sie gehört. Das kenne jeder.
    Informeller Mitarbeiter, wie sollte ich das auf Englisch sagen?
    O I see. Some kind of agent? Or spy?
    O Sally, treib mich nicht zur Verzweiflung, warum kannte sie auch kein Wort Deutsch, natürlich wurde alles noch direkter und roher und abscheulicher in der fremden Sprache, in der die Differenzierungen wegfielen, weil sie mir einfach nicht zur Verfügung standen. Aber was wären die Differenzierungen.
    I’ll tell you what happened, okay?
    Aber gerade das war ja nicht so einfach. Also: In meiner Erinnerung, die ich mühsam heraufgeholt hatte, kamen eines Tages zwei junge Männer in dein Büro in der Redaktion der Zeitschrift, bei der du arbeitetest, und wollten eine belangloseAuskunft von dir, die diese Arbeit betraf. In den Akten steht, sie hätten dich auf der Straße abgefangen. Daran erinnere ich mich nicht. Sie gaben sich als das aus, was sie waren: Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.
    When? fragte Sally.
    1959.
    O my goodness. But then you were another person!
    Laß mal, Sally. Darum geht es jetzt nicht. Es geht um Gedächtnis, es geht um Erinnerung: Mein Thema seit langem, verstehst du. Und d a s hatte ich vergessen können. Mir fiel ein, daß du diese beiden Männer, die sich Heinz und Kurt – oder so ähnlich – nannten, noch zweimal getroffen hattest, einmal, entsann ich mich jetzt, wohl in der Nähe des U-Bahnhofs Thälmannplatz, worüber ihr redetet, weiß ich nicht mehr, sagte ich zu Sally, es waren kurze und in meiner Erinnerung unerhebliche Begegnungen, über die ich übrigens zu Hause sprach, das hatte ich ihnen gleich angekündigt. Angenehm waren sie dir nicht, das weiß ich noch, aber man wußte ja, daß diese Leute beinahe jeden aufsuchten, der in irgendeiner Funktion war, das war schließlich ihr Job, und es belastete dich nicht. Übrigens warst du sie ja bald los. Und als dann nach der »Wende« bei uns die Jagd auf Informelle Mitarbeiter in den Akten begann, kam mir nicht eine Sekunde der Gedanke, dies könne auch mich betreffen. Ich fühlte mich ganz unbelastet, verstehst du das, Sally.
    O yes, I understand, sagte sie. Genauso sicher sei sie sich gewesen, daß sie niemals in Rons Jackentasche einen Brief seiner Geliebten finden

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