Stadt der Engel
liefst, zur FDJ-Kreisleitung, und sahst, wie sie Akten und Schreibmaschinen und Büromaterialien und Möbel aus den Fenstern warfen und die unten Stehenden enthusiastisch dazu schrien und Beifall klatschten. Das sind jedenfalls keine Arbeiter, dachtest du erleichtert. Wie du in der Innenstadt zwischen den immer dichter werdenden Menschenaufläufen herumirrtest, um jemanden zu finden, den du kanntest. Wie du von einer Straßenbahn die Kreideschrift »Weg mit dem Spitzbart!« mit deinem Taschentuch abwischtest, und ich erinnere mich merkwürdigerweise bis heute an das Gesicht des älteren Mannes, den du für einen Beamten hieltest, der dich am Ärmel packte, der sein Gesicht ganz nah an deines heranbrachte, um dir das Ende deines Scheiß-Staates zu verkünden und dich aufzufordern, dein Parteiabzeichen abzumachen. Wie sich ganz schnell ein Ring von Leuten um euch bildete, die dasselbe von dir verlangten, und wie du, ganz kalt, zu dem Mann sagtest: Nur über meine Leiche!
Das war natürlich lächerlich, aber damals schien es mir, ich weiß nicht, ob du das glauben kannst, die einzig angemessene Antwort zu sein, sagte ich zu Peter Gutman, der schwieg und zuhörte. Dann stand ein Genosse von den Historikern plötzlich neben dir und zog dich weg, ihr lieft zum Historischen Institut und begegnetet dabei Gruppen von Menschen, wie du sie zuvor noch nie gesehen hattest, wilde Leute, fandest du, bei einem Trupp lief in der ersten Reihe ein muskulöser Mann mit Bart und nacktem Oberkörper und hatte etwas Keulenartiges in der Hand. Wenn die uns in die Mache nehmen! sagte dein Begleiter, da wurde auch dir mulmig. Aber im Historischen Institut waren sie dabei, die Verteidigung zu organisieren, lach ruhig, aber wie soll ich das anders nennen. Die Eingangstür haben sievon innen mit Schreibtischen verbarrikadiert, ein Wachposten wurde aufgestellt und ließ nur Leute ein, die er kannte oder die sich ausweisen konnten, noch immer keine Instruktionen von der Partei, hieß es. Das, dieses Versagen, wiederholte sich in Krisensituationen, sagte ich.
Dich befiel zum ersten Mal ein Gefühl von Ausweglosigkeit, das du wieder vergaßest. Nicht vergessen habe ich, wie du abends, es war ja lange hell, auf dem Nachhauseweg mindestens zehn Parteiabzeichen aufsammeltest, die ängstliche Genossen weggeworfen hatten. Und wie du entsetzt und erleichtert warst, als die Panzer fuhren. Und wie in den nächsten Tagen, wenn du dich mit deinem Parteiabzeichen in einem Restaurant an einen Tisch setztest, die anderen Leute demonstrativ von diesem Tisch aufstanden. Und zu deiner Beunruhigung waren es dann nur noch eine christliche Kommilitonin und du, die in der Versammlung der Studiengruppe darauf bestanden, die Partei solle sich nicht nur um die Einwirkung des Gegners kümmern, die es natürlich gegeben habe, sondern vor allem die berechtigten Forderungen der Arbeiter beachten. Es hieß aber: Dem Klassenfeind keinen Fußbreit Boden, und man sagte mir, ich solle aufpassen, in welche Gesellschaft ich mich da begebe.
Ich schwieg. Peter Gutman schwieg auch. Dann sagte er: Du kennst ja den Ausspruch von Brecht, als er davon abließ, ein Stück über Rosa Luxemburg zu schreiben: Ich werde mir doch den Fuß nicht abhacken, nur um zu beweisen, daß ich ein guter Hacker bin.
Ja. Diesen Ausspruch kannte ich. Aber müsse man sich nicht eigentlich fragen, warum es zu einer Selbstverstümmelung führen solle, wenn man einfach sage oder schreibe, was ist?
Hoho! rief Peter Gutman, Madame! Einfach sagen, was ist! Nicht mehr und nicht weniger!
Wir waren glücklich vor dem Garagentor des ms. victoria angekommen. Peter Gutman stieg aus. Er steckte seinen Kopf noch einmal ins Autoinnere: Also wann fragst du endlich mich?
Was denn. Was soll ich dich denn fragen.
Ob ich ganz wichtige Dinge in meinem Leben schon mal vergessen habe.
Dich? sagte ich. Dich frage ich zuletzt.
Er warf die Tür beim Beifahrersitz zu.
Doktor Kim war auf Urlaub nach Korea gefahren, ein freundlicher mondgesichtiger Wu Sun würde sich um mich kümmern, aber zuerst mußte Doktor Pan meinen Blutdruck messen, beide wiegten sie ihr Haupt, sie nannten mir Werte, die ich nicht glauben konnte, nun steckten sie die Köpfe zusammen, flüsterten auf englisch, weil Doktor Pan ein Chinese war, kein Koreaner, er wollte wissen, »whether there are some troubles in your life just now«, ich mußte lachen, ja, sagte ich, es gebe einige Schwierigkeiten, die beiden waren diskret, fragten nicht nach, besprachen
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