Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
beschirmen. Stattdessen zwang ich mich, zu der Bank zu gehen und mich zu ihm zu setzen. Er regte sich nicht. Neben ihm wirkte ich wie ein kleines Kind.
»Das ist deine ursprüngliche Gestalt?«, fragte ich leise.
»Das ist die Gestalt, in der ich geboren wurde«, erwiderte er mit tiefer Stimme.
»Und der goldgelockte Tänzer auf dem Dach?«
»Er ist der, der ich hätte werden können. Der ich hätte werden sollen. Es ist genug von ihm in meinem Blut enthalten, damit ich seine Gestalt mit Leichtigkeit annehmen kann, aber ich mache mir nichts vor. Das hier ist mein wahres Ich. Man kann sein Blut nicht verleugnen.«
In diesem Punkte waren wir uns einig.
Über uns gab es wieder einen dumpfen Schlag. Das Publikumsgetöse schwoll an. Saiman hob seinen monströsen Kopf und blickte zur Decke. »Ich habe Angst. Und ich finde das sehr sonderbar. Was für ein lächerliches Gefühl.«
Er hob einen Arm. Der Unterarm war mit silberblauen Härchen überzogen. Und tatsächlich zitterten seine Finger.
»Das ist nur natürlich«, sagte ich. »Nur ein Geisteskranker hätte vor so einem Kampf keine Angst. Jemand, der sich nicht vorstellen kann zu sterben.«
»Hast du Angst, Kate?«
»Immer.«
»Warum machst du es dann?«
Ich seufzte. »Die Angst ist ein Schmerz. Ich lasse mich in sie hineinsinken und nutze sie wie einen Wetzstein, der an einer Schwertklinge entlangfährt. Sie schärft mich, macht mich hellwach. Aber ich darf nicht zu lange Angst haben, sonst laugt es mich aus.«
»Und wie schaffst du es, dass die Angst wieder aufhört?«
»Indem ich töte.«
Die blauen Augen betrachteten mich mit halb entsetztem, halb erstauntem Blick. »Das ist es? Gar keine hehren Ziele?«
»Es gibt nicht immer ein hehres Ziel. Aber es gibt immer einen Grund. Jemand oder etwas muss gerettet werden. Ein Freund, ein geliebter Mensch, ein Unbeteiligter, der es nicht verdient hat, dass ihm etwas geschieht. Manchmal sind es selbstsüchtige Motive. Und manchmal ist es auch nur ein Job. Aber sich zu einem Kampf zu entschließen und dann auch tatsächlich in diesen Kampf zu ziehen – das sind zwei grundverschiedene Dinge.«
»Wie kannst du so leben? Es erscheint mir unerträglich.«
Ich zuckte die Achseln. »Wie du auch gebe ich mich keinen Illusionen hin. Ich wurde mit einem einzigen Ziel gezeugt, geboren, aufgezogen und ausgebildet: der beste Killer zu werden, der ich werden konnte. Deshalb mache ich es.« Damit ich eines Tages Roland töten kann, den mächtigsten Mann der Erde .
»Es wird Zeit«, drang Jims Stimme durch die Tür.
Saiman seufzte und erhob sich. Sein Kopf berührte beinahe die Decke. Er war mindestens zwei sechzig groß. Wow.
»Ist dir der Ase lieber?«
Das Wort traf mich wie ein Blitz. Nun fügten sich die gedanklichen Puzzleteile ineinander: Saiman, wie er trunken von Magie auf dem Dach tanzte und »die Zeit der Götter« feierte, seine geschwinden Gestaltwandlungen, seine Selbstbezogenheit, und wie er nun vor mir stand: ein großes Monster und gleichzeitig ein Riese von einem Mensch. Ich gaffte ihn mit offenem Munde an. So etwas wie ihn durfte es eigentlich gar nicht geben.
»Meine andere Gestalt, Kate. Gefällt sie dir?«
»Ja«, sagte ich und musste mir große Mühe geben, damit meine Stimme nicht bebte. »Bist du also ganz Gott, oder hat sich einer deiner göttlichen Vorfahren an einen Menschen rangemacht?«
Nun lächelte Saiman zum ersten Mal und zeigte dabei Zähne wie aus einem Eisbärengebiss. »Nur ein Viertel. Und das reicht auch. Der Rest ist Frost und menschlich.«
Er hob das Päckchen vom Boden auf. Die Segeltuchhülle glitt herab, und zum Vorschein kam eine anderthalb Meter lange Keule mit Metalldornen, die dicker waren als meine Finger. Saiman bückte sich und schritt durch die Tür hinaus. Ich hörte Jim aufgeschreckt knurren.
Saiman ging weiter, durch den Raum hindurch und auf den Korridor hinaus, und seine Schritte waren doppelt so groß wie meine. Jim hatte die Zähne gebleckt.
»Komm.« Ich zog Slayer und folgte Saiman. Die Männer der Red Guard drückten sich an die Wand, als er vorüberging.
Jim holte mich ein. »Was zum Teufel ist er?«
»Wikinger«, stammelte ich und musste regelrecht laufen, um mit Saiman mitzuhalten.
»Was ist mit den Wikingern?«
»Die Wikinger nannten ihre Götter ›die Asen‹.«
»Sagt mir nichts.«
Das Goldene Tor lag nun direkt voraus, und durch dieses Rechteck sah ich die Grube und das Publikum. Saiman hielt davor im Dämmerlicht inne, die Keule auf der
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