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Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis

Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis

Titel: Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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kennt kein Mitgefühl. Er konzentriert sich ausschließlich auf seine Ziele.«
    »Hat ja wohl nicht so ganz hingehauen«, sagte Jim leise.
    »Nein. Seine Ausbildung hatte einen entscheidenden Makel: Er sorgte sich. Er hat mich immer gefragt, was ich essen wollte. Er wusste, dass Grün meine Lieblingsfarbe war, und wenn er die Wahl zwischen einem blauen Pulli und einem grünen Pulli hatte, kaufte er mir den grünen Pulli, auch wenn der teurer war. Ich bin schon immer gern geschwommen, und wenn wir auf Reisen waren, hat er die Route so gewählt, dass wir an einem See oder einem Fluss vorüberkamen. Er hat mich sagen lassen, was ich dachte. Meine Meinung war ihm wichtig. Ich war für ihn ein gleichwertiger Mensch, und ich sah ihn auch andere Leute so behandeln, als wären sie ihm wichtig. Und trotz seiner vorgeblichen Gleichgültigkeit gibt es eine Stadt in Oklahoma, in der er verehrt wird, und ein Dorf in Guatemala, das eine Holzstatue von ihm am Dorfeingang errichtet hat, um die Leute dort vor bösen Geistern zu schützen. Er hat den Menschen geholfen, wenn er es für richtig hielt.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Vorstellung davon, wie mein Vater wollte, dass ich werde, aber der werde ich wohl nie entsprechen. Und ich will das auch gar nicht. Ich habe meine eigenen Regeln, und an die halte ich mich. Das ist schon schwierig genug. Und wenn das bedeutet, dass mein Vater mir ins Gesicht speien würde, tja, dann ist das halt so.«
    Fast zwei Stunden waren vergangen, als Saiman schließlich hereinkam. Er hatte einen forschen Schritt am Leib und ein hochrotes Gesicht.
    »Der Sender?«
    Jim hielt ihm ein fleischfarbenes Scheibchen hin, das so groß war wie eine Vierteldollarmünze. »Das ist er«, sagte er. »Je tiefer er im Körper steckt, desto besser. Sorg dafür, dass er ihn runterschluckt. Wir wollen nicht, dass er gefunden wird.«
    Saiman nahm den Sender, ging, sein Päckchen hin und her schwenkend, in die Umkleide und schloss die Tür hinter sich.
    Minuten vergingen. Dann gab es hinter der geschlossenen Tür einen dumpfen Schlag.
    »Glaubst du, er schafft es?«, fragte Jim.
    »Nein. Aber wir haben keine andere Wahl.«
    Wir saßen weiter da und warteten. Über uns in der Grube heulte jemand auf, und es hallte dumpf durch die Decke.
    »Es ist kalt geworden«, sagte Jim mit einem Mal.
    Da spürte ich es auch. Eine trockene, intensive Kälte drang durch die Tür, hinter der sich Saiman befand. Ich stand auf. »Ich werd mal nach ihm sehn.«
    Ich klopfte an. Die Tür war eiskalt. »Saiman?«
    Keine Antwort.
    Ich schob die Tür auf. Dahinter machte der Raum einen Schlenker nach rechts, sodass ich von der Türschwelle aus nur einen kleinen Teil der Umkleide einsehen konnte, der vom bläulichen Schein der Feenlampen erhellt war: eine Dusche, deren Vorhang beiseitegezogen war und von deren Duschkopf ein langer Eiszapfen herabhing.
    »Jemand zu Hause?«
    Der Fußboden war mit Raureif überzogen. Ich wandte mich nach rechts und ging vorsichtig hinein, und meine Schuhsohlen rutschten ein wenig weg. Ich stützte mich an der Wand ab, und dann sah ich ihn.
    Er saß zusammengesunken auf der Umkleidebank, sein riesenhafter Rücken war mit mächtigen Muskelpaketen bepackt und seine Haut so weiß und glatt, dass sie vollkommen blutleer wirkte. Struppiges Haar fiel ihm in einer blaugrünen Mähne auf den Rücken. Ein Haarstrang lief weiter die Wirbelsäule hinab und verschwand in einem Beinkleid aus Wolfspelz. Wie er dort saß, war er größer als ich – und damit eindeutig zu groß, um noch ein Mensch sein zu können.
    »Saiman?«
    Das Wesen wandte mir den Kopf zu. Hellblaue Augen starrten mich an, von innen heraus leuchtend, als wären es zwei Eisstücke, die sich irgendwie das Feuer eines Diamanten angeeignet hatten. Er hatte das Gesicht eines Kämpfers, wie von einem großen Bildhauer modelliert: Furcht einflößend, kraftvoll, arrogant, mit einem leichten Zug ins Grausame. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, beschirmt von einer kräftigen Stirnwulst unter blauen Brauen. Die Wangenknochen waren markant, die Nase breit, die Kiefer so kräftig, dass er damit beinahe mühelos Knochen hätte durchbeißen können. Verschwunden war der Philosoph, der gebildete und weltgewandte Mann, der einem Vorträge über die Bedeutung des Luxus hielt, geblieben war nur ein Primitiver: hart, kalt und uralt, wie das Eis, das die Bank umschloss, auf der er saß.
    Ich hätte am liebsten die Hände gehoben, um mich vor diesem Blick zu

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