Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Zunge. Yep. Ich hatte nicht geträumt. Ich hatte soeben einen goldenen Palast davonschweben sehen.
An der Stelle, an der sich der Palast befunden hatte, war eine kleine Lichtung zurückgeblieben. Dort durchbrachen sandfarbene Bauten das Grün: terrassenförmige Dächer, ein überwucherter Zugang und in der Ferne ein hoher Turm.
»Ob da wohl jemand zu Hause ist?«, murmelte ich.
»Wir sollten mal nachschauen. Ich habe Hunger.«
Ich wäre fast von der Mauer gekippt. Jim konnte in seiner Zwischengestalt nicht sprechen. Zumindest hatte er es bisher nicht gekonnt. Seine grotesken Kiefer hatten die Wörter in Fetzen gerissen, aber ich verstand ihn dennoch. »Der Dschungel tut dir gut«, sagte ich.
»Genau das Richtige für mich.«
»Wenn wir da runtergehen, ist es nicht gesagt, dass wir es auch wieder rausschaffen.«
Jim zuckte nur mit den Achseln.
»Wie du meinst.« Ich sah mich nach einem Halt für meine Füße um.
Ein muskulöser Arm umfasste meine Taille. Jim stieß sich ab, und mit einem Mal flogen wir hoch über dem Boden durch die Luft. Mein Herz pochte so heftig, dass ich es in der Kehle spürte. Wir durchbrachen den Baldachin der Baumwipfel und landeten auf einem breiten Ast. Da fiel mir ein, dass ich ja auch mal wieder atmen könnte. »Das nächste Mal warnst du mich aber bitte vor.«
Jim gab einen Laut von sich, der verdächtig einem Lachen ähnelte. »Willkommen im Dschungel.«
Dann schlugen wir uns durchs dichte Unterholz. Schlanke, hohe Bäume mit ovalen Blättern standen neben Teakbäumen, die schwer von Würgefeigen befallen waren. Hier und dort prangten an mir unbekannten Sträuchern rosa- und purpurfarbene Blüten, die mich an Orchideen erinnerten. Robinien mit dunklen, verwachsenen Stämmen ließen aus ihren langen, gelben Blüten Pollen fliegen, die einen Mimosenduft verströmten. Knorrige Baumriesen hingen voller orangeroter Blüten, die so leuchtstark waren, dass es aussah, als stünden die Äste in Flammen.
Ich gab mir größte Mühe, mich möglichst lautlos fortzubewegen, dennoch zeigte mir Jim zweimal die Zähne. Er schlich auf Samtpfoten durchs Unterholz, wie ein schlankes, mordsgefährliches Phantom.
Wir erklommen einen kleinen Hügel und legten uns auf der Hügelkuppe auf die Lauer. Vor uns erstreckte sich eine alte Stadt. Auf einer ausgedehnten Lichtung inmitten sandfarbener Granitfelsen ragten wie steinerne Inseln aus einem Meer aus grünem Gras Gebäuderuinen hervor. Eine überwucherte Straße, die mit rechteckigen Steinplatten gepflastert war, verlief quer nach links und endete an einem ehemaligen Marktplatz. Am anderen Ende der Lichtung ragten die Überreste eines Turms in den Himmel: ein hohes, rechteckiges Fundament, auf dem immer kleinere rechteckige Stockwerke aufgestapelt waren. Es sah für meine Begriffe so ähnlich aus wie ein dravidischer Tempel, aber in indischer Architektur kannte ich mich nicht sonderlich gut aus.
Ich blickte zu Jim hinüber. Er lief los, sprang auf das Dach des nächsten Gebäudes und verschwand dann in der alten Stadt. Ich schlich wieder ins Unterholz hinab und stellte mich auf eine längere Wartezeit ein.
Rings um mich her sangen Vögel Dutzende Melodien. Ich sah mir den Dschungel genauer an. Von sonstigen Tieren konnte ich keine Spur entdecken. Ich sah keine Schlangen an den Ästen, keine Pfotenabdrücke und keine Kratzer an den Baumstämmen. Hier hätte es doch eigentlich Affen geben müssen, Füchse und vielleicht auch Wölfe. Doch von dem Vogelgesang einmal abgesehen, erschien mir dieser Dschungel wie ausgestorben.
Jim landete neben mir im Gras. »Ein Gebäude weiter hinten sind etliche Reaper, drei, vielleicht auch mehr.«
»Jäger?«
»Könnte sein. Viele Tiergerüche und Blut.«
Das ergab Sinn: In einem Zauberpalast durch die Gegend zu schweben war ja gut und schön, aber ab und zu brauchten die Reaper doch auch mal was zum Futtern. Ich an ihrer Stelle hätte kleinere Jägertrupps im Dschungel zurückgelassen und wäre ab und zu mal vorbeigeschwebt, um das Fleisch abzuholen.
»Auch Menschenblut«, sagte Jim.
Menschenblut war niemals gut.
Wir brachen in die Ruinenstadt auf, Jim über die Dächer und ich am Boden, an den alten Gemäuern entlang. Nie gesehene Blumen, orangefarben, zitronengelb und scharlachrot, blühten inmitten der Hausruinen. Berauschende Düfte zogen durch die Luft. Ich roch Sandelholz, Vanille, Zimt, Jasmin, Zitrusfrüchte … Vielleicht betrieben die Reaper nebenher ein Parfümlabor.
Wir kamen an einen großen
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