Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Eigentlich hatte ich Curran überhaupt nicht begegnen wollen, und wenn ich ihm denn schon begegnen musste, wollte ich dabei in allerbester Verfassung sein, denn er war ein fieser Scheißkerl und liebte es, mich in Verlegenheit zu bringen. Und stattdessen war ich nun vollkommen hilflos, lag in einem Bett in einem Gebäude des Rudels und war von ihm gerettet worden. Am liebsten wäre ich im Laken verschwunden. Vielleicht würde er ja das Zimmer verlassen, wenn ich mich schlafend stellte.
Curran beäugte mich. »Du siehst wirklich scheiße aus.«
»Danke. Ich geb mir redlich Mühe.« Er hingegen sah fabelhaft aus. Fast einen Kopf größer als ich, breitschultrig und so viele Muskeln, dass sie sich unter seinem T-Shirt abzeichneten, bewegte sich Curran mit natürlicher Anmut. Er vermittelte den Eindruck geballter Macht und gebändigter Gewalt, die, wenn sie entfesselt wurde, Schneisen der Verwüstung hinterlassen konnte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er das Haar kurz getragen, sodass man es im Kampf nicht ergreifen konnte, doch mittlerweile war es ein wenig nachgewachsen und zeigte Anfänge einer Welle. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, dass er welliges Haar hatte.
Curran nahm eine der Schalen, betrachtete den Inhalt aufmerksam, brachte sie mir dann und hielt sie mir hin. Der daraus aufsteigende Duft war himmlisch. Mit einem Mal hatte ich einen Bärenhunger. Ich setzte mich auf und ergriff die Schale mit beiden Händen. Doch dann ließ ich sie schnell wieder los und schüttelte die Finger aus. Sie war glühend heiß.
»Dummerchen.« Curran stellte die Schale vor mir aufs Bett und reichte mir einen Löffel.
Manchmal gibt es doch nichts Besseres im Leben als eine schöne Schale Hühnersuppe.
»Danke.« Für die Suppe und dafür, dass du mir wieder mal das Leben gerettet hast.
»Gern.«
»Hast du die Landkarten bekommen? Sie lage n … «
»… auf der Anrichte. Jetzt sei still und iss deine Suppe.«
Curran nahm Doolittles Stuhl, stellte ihn an mein Bett und setzte sich. Wenn ich den Fuß ausgestreckt hätte, hätte ihn mit den Zehen berühren können. Er war mir viel zu nah, als dass mir wohl dabei gewesen wäre. Ich zog Slayer näher an mich heran.
Curran sah mir beim Essen zu. Wie er dort so saß, ganz entspannt, machte er einen beinahe normalen Eindruck: Ein gut aussehender Mann, der ein wenig älter war als ich. Wenn seine Augen nicht gewesen wären. Die verrieten ihn unweigerlich. Es waren die Augen eines Alphatiers, die Augen eines Mörders und Beschützers, dem das Leben eines Rudelmitglieds alles und das eines Außenstehenden nichts bedeutete. Er bedachte mich nun nicht mit seinem strengen Blick, nein, er sah mir nur zu. Doch ich ließ mir nichts vormachen. Ich wusste, wie schnell das tödliche Goldgelb in diese Augen schießen konnte. Und ich hatte mit angesehen, was dann geschah.
Curran befehligte über fünfhundert Gestaltwandler. Ein halbes Tausend Seelen, die sich am Scheideweg zwischen Tier und Mensch befanden. Wölfe, Hyänen, Ratten, Katzen, Bären – alle nur durch zweierlei vereint: das Verlangen, menschlich zu bleiben, und die Treue zum Rudel. Und Curran verkörperte dieses Rudel. Sie huldigten dem Boden, über den er schritt.
»Das ist also das Geheimnis«, sagte Curran.
Ich erstarrte, den Löffel auf halbem Weg zum Munde. Das war’s. Er hatte herausgefunden, was ich war, und jetzt spielte er mit mir.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er. »Du bist gerade ein bisschen blass geworden.«
Nur einen Moment noch, dann würde er das ganze Theater sein lassen und mich in Stücke reißen. Wenn ich Glück hatte. »Geheimnis? Was für ein Geheimnis?«
»Das Geheimnis, wie man es schafft, dass du mal die Klappe hältst«, erwiderte er. »Man muss dich einfach nur halb tot prügeln lassen und dir dann eine Schale Hühnersuppe reichen. Und siehe d a … « Er hob die Hände. »… himmlische Still e … «
Ich wandte mich wieder der Suppe zu. Haha! Sehr witzig.
»Was dachtest du denn, was ich meine?«
»Keine Ahnung«, murmelte ich. »Die Wege des Herrn der Bestien sind für eine bescheidene Söldnerin wie mich doch schlichtweg unergründlich.«
»Als wärest du neuerdings bescheiden.«
Immerhin behandelte er mich noch so, als stünde ich auf den Beinen und wäre bereit, mich zu verteidigen, anstatt hier wehrlos in einem Bett zu liegen und Hühnersuppe zu löffeln. Apropos Suppe. Ich stellte die leere Schale beiseite und blickte sehnsüchtig zu dem Tablett hinüber. Ich
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