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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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ihn hatte ich darum gebeten. Er wusste das, war jedoch zu scheu gewesen, um Dankbarkeit zu zeigen. Wir standen uns nicht mehr annähernd so nahe wie damals bei unserem ersten Fest, und ich glaube, mein Geschenk überraschte ihn. Ich hatte nichts von irgendwelchen weiteren Anstrengungen von ihm gehört, sich einzu sprach lichen. Ich hatte ihm nicht verraten, dass ich von den anderen wusste.
    Vor dem jetzigen Zeitpunkt kamen die Menschen. Ein Gastgeber, ein Lügen-Athlet – einer der Professoren, wie ich bemerkte –, war an der Reihe.
    Bevor die Menschen kamen, waren wir … und seine Worte erstarben. Einer seiner Kameraden fuhr fort: Bevor die Menschen kamen, redeten wir nicht so viel über bestimmte Dinge. Ein großes Raunen ging durch das Publikum. Dem Professor folgte ein weiterer Sprecher: Bevor die Menschen kamen, redeten wir nicht so viel …
    Ich hatte genug gelernt, um diesen Trick zu erkennen, eine gemeinschaftliche Lügenhaftigkeit: Der Letzte wiederholte den vorhergehenden Satz, senkte jedoch bei den letzten Wörtern seine Stimmen fast zu einem Nichts. Über bestimmte Dinge wurde gesagt, aber so leise, dass die Zuschauer es nicht hören konnten. Es war eine geschickte Zurschaustellung, eine Vortäuschung, ein Publikums-Beglücker, und das Publikum war beglückt.
    ArnOld versteiften sich und sagten zusammen: » surl  |  tesh-echer .«
    Bienenkorb. Er schwankte. Sein Präsentflügel kreiste, sein Fächerflügel spannte sich. Er stieg hinauf zum Lügenplatz.
    Es gab im Wesentlichen zwei Arten, wie die wenigen Ariekei, die lügen konnten, ein wenig zu lügen vermochten. Die eine bestand darin, langsam vorzugehen. Sie versuchten, das unwahre Satzglied zu erfassen, was fast unmöglich war, da ihre Bewusstseine allergisch auf etwas so Kontrafaktisches reagierten, selbst wenn es unausgesprochen blieb. Nachdem sie es geistig vorbereitet hatten, wie erfolgreich oder -los auch immer, heuchelten sie sich selbst gegenüber vor, es zu vergessen. Redeten jedes einzelne seiner Wörter mit einem bestimmten Tempo, in einem Rhythmus und voneinander separiert – so weit getrennt im Bewusstsein eines Sprechers, dass jedes ein eigenständiger Gedanke war, der sich mit und als seine eigene Bedeutung äußern ließ, aber genau ausreichend schnell und rhythmisch, dass für Zuhörer die Wörter zu einem schwerfälligen, doch verständlichen und unwahren Satz zusammenwuchsen. Die erfolgreichen Lügner, die ich bislang gesehen hatte, waren Langsam-Lügner.
    Es gab angeblich noch eine andere Technik. Sie war grundlegender, lebendig und bei Weitem schwerer. Diese bestand für den Sprecher darin, in ihrem Bewusstsein selbst die einzelnen Wortbedeutungen platzen zu lassen und einfach alle notwendigen Töne brutal zu äußern. Eine Aussage rausquetschen. Das war Schnell-Lügen: das Ausspeien eines Wasserfalls von Geräuschen, bevor die Unwahrheit der Totalität dem Sprecher die Fähigkeit raubte, die Wörter zu denken
    surl  |  tesh-echer öffnete seine Münder.
    Bevor die Menschen kamen, sagte er in einem widerspenstigen Stakkato, redeten wir nicht.
    Es folgte eine lange Stille. Und dann ein Aufruhr, ein Tumult.
    Ich wünschte sehr, ich hätte irgendein Verständnis von der ariekenischen Körpersprache. surl  |  tesh-echer mochte Triumph, Geduld oder nichts ausstrahlen. Er hatte nicht die zweite Hälfte von irgendeiner Wahrheit geflüstert und sich auch nicht taktmessend Ton-für-Ton durch einen konstruierten nichtkonstruierten Satz geschleppt. Was surl  |  tesh-echer gesagt hatte, war unzweifelhaft eine Lüge.
    Das Publikum taumelte. Ich taumelte.
    Wenn die Gastgeber in ihrem dritten Nymphenstadium erwachten, waren sie plötzlich sprachgewandt. Sprache war eine direkte Funktion ihres Bewusstseins. »Vor Millionen von Jahren muss irgendein Anpassungsvorteil darin gelegen haben, zu wissen, dass das, was kommuniziert wurde, auch der Wahrheit entsprach«, erklärte mir Scile, als wir das letzte Mal über diese Geschichte Hypothesen aufgestellt hatten. »Das führte zur Selektion eines Geistes, der nur das ausdrücken konnte.«
    »Die Evolution des Vertrauens …«, setzte ich an.
    »Auf diese Weise ist Vertrauen nicht notwendig«, fiel er mir ins Wort. Zufall, Kampf, Scheitern, Überleben: Ein darwinistisches Chaos instinktiver Grammatik, die Entwicklung eines Tiers mit Großhirn in einer harten Umwelt – die Auslese von Eigenschaften – hatten eine Rasse von reinen Wahrheit-Sagern entstehen lassen. »Diese Sprache ist

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