Stadt der Liebe
nicht zögern und sich auf den Schlummernden stürzen. Die Dauphine erstickte jedoch mit einem herrischen Wink sein Vorhaben.
»Ein schwarzer Rock der Gelehrsamkeit«, sagte sie dann, zur Bank blickend. »Meine Neugier ist geweckt. Der Mann interessiert mich. Wie schade, daß er uns den Rücken zukehrt. Sein Gesicht, im Schlaf gelöst, könnte uns manches sagen.«
»Ich werde ihn bestrafen lassen«, preßte der Präfekt zwischen den Zähnen hervor. »Wie kommt er in den Bois?«
»Vielleicht war er schon vor Eurer Absperrung hier«, amüsierte sich die Dauphine.
»Trotzdem hätte er entdeckt werden müssen, Königliche Hoheit.« Der Präfekt wandte sich an den verantwortlichen Offizier in seiner Begleitung. »Das geht auf Euer Konto. Eure Leute haben das Gelände nicht mit der nötigen Sorgfalt abgesucht. Ihr meldet Euch nachher bei mir. Ihr werdet –«
»Hört auf mit Eurem Unsinn!« brachte die Dauphine den Präfekten zum Schweigen und befaßte sich wieder mit dem Unbekannten auf der Bank. »Er ist für einen darbenden Scholaren überraschend gut gekleidet, oder irre ich mich?«
»Nicht nur von der Kleidung ist das zu sagen«, meinte die Marquise Souvignale, »sondern auch von der goldenen Kette, an der sein Degen hängt. Vielleicht ist er ein Magister oder gar ein Medicus?«
»Zum Alchimisten paßt sein Corpus besser«, höhnte der arrogante Baron Comte de Buron. »Giftige Dämpfe scheinen ihm schon ganz schön zugesetzt zu haben. Vielleicht sucht er die Formel vom Stein der Weisen.«
Spöttisches Gelächter wurde rundum vernehmbar, und davon regte sich die schlafende Gestalt, wälzte sich auf den Rücken und wandte das Gesicht der Sonne zu. Die Augen blieben geschlossen, noch wurde der Schlummer, wenn auch in leichterer Form, fortgesetzt.
»Schön ist er nicht«, murmelte die Comtesse de Polignac. »Die Züge sind sehr grob und unausgeglichen.«
»Und seine Farbe ist, wie ich schon sagte, die eines Menschen, der sich seine Gesundheit ruiniert hat. Weiß der Himmel, womit.« Der Comte de Buron verzog angewidert sein Gesicht. »Die Lungen dieser Leute halten nicht stand. Und dann werden sie auch noch anderen zum Verderben, indem sie sie anstecken.«
»Was mir auffällt«, sagte die Marquise de Souvignale mit einem lüsternen Ausdruck in den Augen, den sie nicht ganz verbergen konnte, »sind seine lasterhaften Ringe unter den Augen. Die bekommt man nicht, wenn man nach dem Stein der Weisen sucht.«
Erneut wurde allgemein gelacht, nur die Dauphine schloß sich davon aus. Unbewegt stand sie da und starrte auf das Gesicht des Schlafenden. Mit einer strengen Handbewegung sorgte sie für augenblickliche Stille und trat auf Zehenspitzen nahe an die Bank heran.
»Alain Chartier«, flüsterte sie. »Ja, er ist es, es kann kein anderer sein, ich sah ihn bei einem Volksfest in Bayeux. Alain Chartier … mein lieber Freund Chartier …«
Erstarrung bemächtigte sich auf einmal des ganzen Kreises der Höflinge. Mit großen Augen und angehaltenem Atem sahen und hörten alle der Dauphine zu.
»Jede deiner Dichtungen ist in meinem Herzen verwahrt«, sagte diese leise und betrachtete mit Trauer Chartiers fahle Wangen und tiefe Augenhöhlen. »Du hast dein Land, deine Sprache, mir, der Fremden, nahegebracht und zugleich mein Herz mir offengehalten für meine eigene Heimat. Deine glühenden Verse der Vaterlands- und Heimatliebe werden mich immer davor bewahren, die Felsenküste Schottlands zu vergessen, wo die tosende Brandung sich in das Gestein frißt; sie werden in mir vor dem Verblassen die Bilder der endlosen Weiden schützen, auf denen die großen Herden der Schafe dahinziehen. In meinen Ohren wird nicht verstummen der Klang der Schalmeien der Hirten. Deine Lieder, Alain Chartier, erhalten in mir lebendig die Erinnerung an das Schloß meiner Ahnen zwischen grünen, flachen Hügeln, über die der salzige Meereswind weht. Für all das danke ich dir, Alain Chartier, danke ich dir mit der ganzen Kraft meines Herzens.«
Die Dauphine setzte sich selbstvergessen in Bewegung und ging ganz nahe an die Bank heran, tat den letzten Schritt, um jede Distanz zwischen ihr und dem schlafenden Dichter zu überwinden. Und dann geschah etwas Unaussprechliches. Das Entsetzen, welches die Schar der Höflinge packte, ging über alles Diesbezügliche hinaus, das in diesem Kreis schon jemals zu verzeichnen gewesen war.
Es fing damit an, daß die Dauphine sich vorbeugte und dem schlafenden Dichter die verschwitzten Locken aus der Stirn
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