Stadt der Lügen
warmen, sonnigen Sommertag die Fifth Avenue hinunterspazierte und das ganze Leben noch vor sich hatte. Jedem, der sie sah, erschienen sie als Prototyp der Perfektion.
Er hatte einen Vorwand benutzt, um sie in seine Wohnung zu locken: Er wollte, so sagte er, mit ihr noch ein paar Szenen wiederholen, die sie in der Schauspielschule eingeübt hatten. Er erklärte, ihre Darstellung der Maggie in Die Katze auf dem heißen Blechdach hätte ihn unendlich berührt. Außerdem hatte er ihr mehrfach bedeutet, er halte sie für ausgesprochen talentiert, hätte aber den Eindruck, sie halte etwas zurück, und dass sie, wenn sie sich nur entspannen würde, ungeahnte Höhenflüge erreichen könnte.
Wie sollte sie es ihm nur sagen? Wie?
Sein Zimmer befand sich in einem unterteilten Loft, das er zusammen mit drei anderen Studenten gemietet hatte. Es war ziemlich groß und sauberer als die meisten Zimmer junger Männer – was nicht heißen sollte, dass sie schon in vielen gewesen wäre. Ehe sie nach New York kam, hatte sie zwei Affären gehabt, sofern man so etwas Affäre nennen konnte: Eigentlich waren es eher unbefriedigende, unerfahrene sexuelle Fummeleien gewesen. Sie bereute sie zwar nicht, hatte sie aber aus ihrem Gedächtnis verbannt; sie hätten ebenso gut niemals stattgefunden haben können.
Sie rezitierten eine Weile, spielten mit der Szene in der Art, wie sie es im Unterricht geübt hatten, und versuchten es dann auf eigene Weise. Kay fiel auf, dass Scott nicht nur schön und ein hervorragender Schauspieler war, sondern dass er auch das Zeug zu einem ausgezeichneten Regisseur hatte.
Plötzlich ließ seine Konzentration spürbar nach. Er blickte sie an. Sein Gesicht war ihrem ganz nah, und sie sah, wie sich seine Augen veränderten. Er richtete seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Figur, die sie darstellte, sondern auf sie selbst. Seine Hand näherte sich zärtlich ihrer Wange. Sie spürte, wie seine langen, schlanken Finger vorsichtig ihr Haar zurückstrichen.
»Du bist wunderschön«, flüsterte er und küsste sie.
Sie lehnte sich an ihn – sie wollte es geschehen lassen. Doch plötzlich gebot sie ihm Einhalt.
»Warte. Ich muss dir etwas sagen.«
Lächelnd blickte er sie an. »Hat das nicht Zeit bis später?«
»Nein. Ich muss es dir jetzt sagen.«
»Gut.«
Weder nahm er die Hand fort, noch entfernte er sich von ihr.
Dafür trat sie einige Schritte zurück. Nicht weit, aber sie wusste, sie musste es tun. Verlegen ging sie im Kreis und suchte nach einem Anfang. Scott wartete geduldig.
»Mein Name ist nicht Kay Taylor«, sagte sie schließlich. »Ich heiße Kay Conrad. Mein Vater ist Gregory Conrad, mein Großvater Clark Conrad und mein Urgroßvater Gregory James Conrad. Vermutlich kennst du meinen Onkel und meine Tante – in diesem Geschäft kennt sie jeder, vermutlich sogar im ganzen Land und der ganzen Welt.«
Er sah sie lange an. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Und dann plötzlich warf er den Kopf zurück und lachte. Sie sah ihn betroffen an.
»Tut mir Leid«, sagte er noch immer lachend. »Du hast ausgesehen, als müsstest du mir ein ganz schreckliches Geständnis machen. So etwas wie einen Mord oder so.«
»Vielleicht habe ich das ja getan«, entgegnete sie. »Vielleicht habe ich mich selbst umgebracht. Es ist schrecklich, mit dem Namen eines großen Clans durch die Weltgeschichte zu laufen. Jeder meint, man müsse etwas ganz Besonderes sein, nur weil man diesen Namen trägt. Ich bin nichts Besonderes. Ich bin ganz normal und möchte auch gar nicht anders sein. Ich möchte ich selbst sein.«
»Du bist beides«, sagte er. Mit ausgestreckten Armen legte er ihr die Hände auf beide Schultern und blickte ihr tief in die Augen. »Du bist du selbst, und du bist etwas ganz Besonderes. Und daran ändert sich auch nichts, wenn du deinen Namen veränderst.«
Sie biss sich auf die Lippen. Plötzlich fürchtete sie, in Tränen ausbrechen zu müssen. Ihre Stimme zitterte. »Aber du verstehst doch sicher, oder?«, flehte sie. »Du verstehst, warum ich jemand anders werden musste. Ich konnte nicht unter dem Namen Kay Conrad in New York studieren. Kannst du dir vorstellen, was dann los gewesen wäre?«
»Aber natürlich verstehe ich das«, beruhigte er sie. »Und keine Sorge: Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Und noch etwas möchte ich dir sagen. Ich weiß, ich habe gelacht – das hätte ich nicht tun sollen, und ich möchte mich dafür entschuldigen … aber ich habe
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