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Stadt der Lügen

Stadt der Lügen

Titel: Stadt der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ambrose
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Anklagepunkte gegen Gail fallen gelassen wurden. Der Grund lag ganz einfach am fehlenden Beweismaterial, ohne das man keinen Erfolg versprechenden Indizienprozess gegen Gail anstrengen konnte.
    Als sie verhaftet wurde, hoffte die Polizei entweder auf ein Geständnis oder auf das Finden von Beweisen. Doch Gail war weit davon entfernt, etwas zu gestehen. Sie antwortete auf keine einzige Frage. Die Spurensicherung fand auch mit den ausgeklügeltsten Mitteln weder Fasern noch Blutspuren, die sie des Mordes hätten überführen können. Die blutgetränkten Kleider und die Mordwaffe waren zu diesem Zeitpunkt längst unter zehn Metern Beton begraben, und nur Gail kannte den genauen Platz. Außer Folter nutzte die Polizei jede nur erdenkliche Verhörmethode, doch Gail lächelte nur, als hätte sie Mitleid mit der Unzulänglichkeit ihrer Bemühungen. Nach einer Woche wusste sie, dass sie am längeren Hebel saß; dennoch war sie verblüfft, als man sich entschloss, sie nicht vor Gericht zu stellen.
    Ihre Rache bekamen sie trotzdem. Auf mysteriöse Weise gelangte die infrage stehende Filmspule in ein Labor, das Kopien davon zog, die unter der Hand zum Preis von zweihundert Dollar gehandelt wurden. Jeder, der auf sich hielt, hatte bis zum Ende des Sommers das Filmchen mindestens einmal gesehen.
    Man schrieb das Jahr 1970. Es ging das Gerücht, dass Gail, die am Tag nach ihrer Freilassung aus Hollywood verschwunden war, unter anderem Namen in Italien lebte. Die Presse investierte ein Vermögen, um ihrer Spur zu folgen, hatte jedoch keinen Erfolg. Über ein Jahr später tauchte sie wieder auf und drehte Low-Budget-Filme in Italien und Deutschland, die jedoch trotz des öffentlichen Interesses an ihrer Person floppten. Danach dachte niemand daran, ihr Rollen anzubieten.
    Dieses Mal verschwand sie endgültig in der Versenkung; kein Hahn krähte mehr nach ihr. 1973 waren die Augen der Welt auf Watergate und die Auswirkungen des Vietnamkriegs gerichtet. Lediglich die Anwälte der Familie Conrad wahrten noch ein gewisses Interesse an dem Fall und verfolgten Gerüchte, dass Gail während der zwölf Monate zwischen ihrem Verschwinden aus Hollywood und ihrem erfolglosen Comeback-Versuch in Europa ein Kind bekommen hatte. Die Möglichkeit, es könne sich um Gregs Kind handeln, war nicht ganz von der Hand zu weisen, wurde aber schnell ad acta gelegt, weil Gail keine Ansprüche stellte. (Man ging automatisch davon aus, dass eine Frau wie sie keine Gelegenheit auslassen würde, zumindest einen Teil des Familienvermögens für sich zu beanspruchen.) Man wusste noch nicht einmal, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte – falls es überhaupt je ein Kind gegeben hatte. Schließlich ließ die Familie keine weiteren Nachforschungen mehr anstellen; sie war nur allzu glücklich, dass der Skandal allmählich verebbte.
    Die letzte Fußnote tauchte im Jahr 1987 auf. Eine Frau namens Ellen Traynor kam eines Morgens nicht zu ihrer Arbeit in einem Geschäft in der New Yorker Lexington Avenue, wo sie in der Strumpfabteilung tätig war. Nachdem sie über eine Woche unentschuldigt gefehlt hatte, forschte ihr Arbeitgeber nach; sie war seit vier Jahren bei ihm angestellt und hatte sich als ausgesprochen zuverlässig erwiesen. Man fand sie in ihrer Wohnung, wo sie acht Tage zuvor an Herzversagen gestorben war. Ein Freund entdeckte die Tote auf dem Badezimmerboden. Er kümmerte sich auch um die Einäscherung, weil es keine weiteren Angehörigen gab.
    An dieser Stelle wäre die Geschichte zu Ende, hätte man nicht in der bescheidenen Wohnung der Toten Papiere und Zeitungsausschnitte entdeckt, die sie als Gail Prentice identifizierten.
    Plötzlich waren sowohl Kollegen als auch Kunden des Ladens an der Lexington Avenue überzeugt, immer schon geahnt zu haben, dass Ellen Traynor etwas Besonderes an sich hatte. Zwar hatte sich ihr Gesicht gegenüber den vergilbten Fotos in alten Fanmagazinen stark verändert, aber immerhin war noch so viel Ähnlichkeit da, dass man sie sofort erkannte.
    Die Story war einigen Zeitungen eine halbe Spalte und ein Foto wert, wurde aber in Hollywood kaum kommentiert; es war, als ob Gails siebzehn Jahre zuvor ausgesprochene Exkommunizierung immer noch gültig sei.
    Greg Conrad empfand einen gewissen Stich – er wusste nicht recht, was es war –, als er den kurzen Nachruf in Variety las. Erleichterung? Mitleid? Reue? Zwei Jahre nach dem Skandal hatte er ein Mädchen aus einer angesehenen Bankiersfamilie im Osten

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