Stadt der Lügen
es immer noch. Er hatte sie gewarnt, dass sie nicht verstehen würde. Vielleicht verstand sie wirklich nicht. Aber irgendwo tief in ihrem Innern glaubte sie den Ansatz eines Begreifens zu spüren. Möglicherweise hatte sie längst verstanden und wusste es nur noch nicht.
Er ging eine Weile schweigend hin und her und drehte sich dann zu ihr um.
»›Lebende Legende‹. Es handelt sich hier um einen Markennamen, an dem wir die Rechte besitzen. Genau genommen habe ich ihn erfunden und im Ausland registrieren lassen, ehe die ganze Sache öffentlich wurde. So ganz ist sie es immer noch nicht, aber du weißt ja, wie es ist: Sobald die Leute wissen, dass etwas möglich ist, wird es über kurz oder lang auch getan. Die Welt findet immer eine Möglichkeit, mit diesen Dingen zu leben. Es ist der Modus Vivendi. Du weißt, was das heißt?«
»Ich weiß es«, bestätigte sie mit kleiner, flacher Stimme.
»Aber du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen«, tröstete er. »In ein paar Minuten wirst du nicht einmal mehr wissen, dass wir diese Unterhaltung geführt haben.«
Sie versuchte, etwas zu sagen, doch ihre Zunge war trocken. Es dauerte einen Moment, ehe die Worte herauskamen.
»Dieser Mann … Er war nicht … Er ist nicht … Wer ist er?«
»Kundengeheimnis. Aber du hast Recht: Er ist nicht der, für den du ihn gehalten hast. Keiner von ihnen übrigens.«
Es war also genau, wie sie befürchtet hatte. Niemand war der gewesen, für den sie ihn gehalten hatte.
»Aber wer … Warum …?«
»Unsere Kunden bezahlen gutes Geld dafür. Sie sind die wirklich echten Fans, Kleines. Es genügt ihnen nicht, alles über dich zu wissen. Sie wollen dich persönlich kennen lernen. Sie wollen in deinem Leben eine Rolle spielen, ganz gleich ob als Frisör, Stylist oder Garderobiere. Ihre Rolle hängt von dem Preis ab, den sie zahlen. Manche können sich nur ein einziges Mal leisten und zehren ihr ganzes Leben davon. Andere wiederum – es gibt da einen, der kommt jede Woche und spielt mit.«
Sie war sehr still und bemühte sich, ihre Gefühle und Gedanken zu verarbeiten. Doch es war sinnlos. Sie fühlte sich völlig leer. Wie tot. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie bemerkte, dass sie sich auf einen Stuhl hatte fallen lassen. Mit eng geschlossenen Knien und Füßen saß sie da, die nervös zuckenden Hände im Schoß verschränkt.
»Und warum ausgerechnet ich?«, fragte sie nach einer Weile tonlos.
»Das fragst du noch, Kleines?«, gab er mit einem schiefen Lachen zurück. »Du wolltest alles und hast es bekommen. Du hast dich selbst erschaffen. Wir haben nur Kopien gemacht – ich habe den Überblick verloren, wie viele es sind. Du bist überall. Und sie wollen immer noch mehr – trotz zeitweiliger kleiner Probleme, wie zum Beispiel heute.«
Wieder war er durch das Zimmer gewandert und blickte nun von der anderen Seite her zu ihr hinüber.
Durch die Haarsträhnen hindurch, die ihr über die Augen gefallen waren, sah sie ihn an. Ein heftiges Zittern hatte sie befallen, das sie kaum noch kontrollieren konnte. Genau genommen war es schlimmer als Zittern: ein unablässiger Schauder, der sie bis ins Mark erschütterte und ihre Zähne klappern ließ, als ob sie Elektroschocks ausgesetzt wäre.
»Okay«, sagte er über ihre Schulter hinweg zu jemandem, »ihr könnt sie mitnehmen.«
Sie schrie auf und sprang auf die Füße, doch ehe sie sich umdrehen konnte, wurde sie von zwei Paar starken Händen festgehalten. Flüchtig erkannte sie zwei Männer, einen kahlköpfigen, der wie ein Arzt in Weiß gekleidet war, und einen jüngeren mit breiten Schultern und vielen Muskeln. Dann wurde ihr etwas in den Arm gestoßen. Es fühlte sich nicht an wie eine Spritze und tat auch überhaupt nicht weh. Doch sofort merkte sie, wie sie ohnmächtig wurde. Zwar kämpfte sie noch dagegen an, wusste aber gleichzeitig, dass sie verloren hatte.
»Hier, Süße. Nehmen Sie das.«
Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass sie auf dem Rücken lag. Als sie aufzustehen versuchte, merkte sie, dass ihre Beweglichkeit sehr eingeschränkt war. Auf ihre panische Reaktion hin streichelte die Frau, die bei ihr war, ihre Hand.
»Vorsicht, Süße. Wir haben Sie gerade in dieses Ding eingenäht – machen Sie es nicht kaputt.«
Natürlich. Das Kleid. Das verfluchte Kleid. Mithilfe der Frau setzte sie sich auf. Sie war in ihrem Umkleideraum hinter der Bühne des Garden.
»Nehmen Sie das jetzt. Gleich geht es Ihnen besser.«
Sie nahm die beiden von
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