Stadt der Lüste
durchdringendem Blick an.
Schließlich reichte sie ihm das zweite Blatt Papier. Es war der Hinweis auf ihr Passwort
Guten Morgen
, den er Emma an ihrem ersten Arbeitstag auf den Schreibtisch gelegt hatte.
»Von einer Karriere als Erpresser rate ich dir dringend ab«, sagte sie. »Du hättest das Briefchen genauso gut unterschreiben können. Bei Lomax benutzt niemand sonst diese alberne Schriftart.«
Ian schwieg mit betretener Miene.
»Wie hast du es herausgefunden?«, wollte Emma wissen.
»Ich habe auf Catherines Schreibtisch einen Brief gefunden, den du an sie geschrieben hast. Ich bin ganz zufällig darauf gestoßen, er lag zwischen ein paar Unterlagen«, erklärte er. »Ich habe die ersten Zeilen gelesen und konnte nicht mehr aufhören.«
»Warum hast du überhaupt auf Catherines Schreibtisch herumgeschnüffelt?«, fragte Emma weiter.
Ian schüttelte kläglich den Kopf und erwiderte: »Ich weiß einfach gern, was vor sich geht.«
»Und was hast du dir von diesem anonymen Brief erhofft? Hat das etwas mit unserer Unterhaltung am Abend des Begrüßungsumtrunks zu tun? Als du mir nach dem Abendessen diese bescheuerte Szene gemacht hast?«, fragte sie mit Wut in der Stimme. So leicht würde sie ihn nicht vom Haken lassen.
Er wurde rot.
Nach dem Begrüßungsumtrunk mit Catherine undden Lomax-Mitarbeitern waren Emma und Ian gemeinsam essen gegangen, obwohl Emma im Hinblick auf ihre aufkeimende Beziehung mit Matt Bedenken hatte. Ihre Befürchtungen erwiesen sich als berechtigt, denn sie verbrachte den Großteil des Abends damit, Ians unbeholfene Annäherungsversuche abzuwehren, was schließlich in einer unangenehmen Szene in der U-Bahn-Station Sloane Square gipfelte. Da er sich am nächsten Tag in der Agentur jedoch wieder völlig vernünftig benommen hatte, war Emma davon ausgegangen, dass das Thema erledigt war.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er sie kleinlaut.
»Was hast
du
jetzt vor?«, gab sie zurück. »Oder anders ausgedrückt: Was meinst du, was ich jetzt tun sollte?«
»Willst du die Agentur wirklich kaufen? Hast du so viel Geld?«
»Frage eins: nicht die ganze Agentur, nur einen Teil. Frage zwei: mehr als genug. Ich könnte Catherine bitten, dich zu feuern«, sagte sie.
»Es sind doch nur ein paar Worte auf einem Zettel. Es interessiert mich nicht, wer du bist oder was du vorhast. Ich wollte dir bloß klarmachen, dass ich Bescheid weiß. Vielleicht könnte ich dir sogar von Nutzen sein«, erwiderte er hektisch.
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte sie.
»Wirklich? Könnte ich dir helfen?«
Emma entschied, dass er genug gelitten hatte; sein Gesicht war viel zu rot für ihren Geschmack. Ian hatte nichts mit der Sache zu tun, davon war sie überzeugt. »Was weißt du über Tony Wilsons Frau?«, fragte sie.
»So viel wie jeder andere auch – nichts. Niemand außer Sonia hat mit ihr Kontakt. Ich glaube, die beiden sind befreundet«, erwiderte Ian.
»Kommst du an irgendwelche Unterlagen von Sonia heran, zu denen du eigentlich keinen Zugang hast?«
»Nein«, antwortete er knapp.
»Ian!«, sagte Emma mit Nachdruck.
»Sie bewahrt ein paar Unterlagen in dem kleinen, feuerfesten Aktenschrank neben ihrem Schreibtisch auf.«
»Schließt sie ihn ab?«
»Ja. Aber es gibt einen Zweitschlüssel. Ich habe ihn in einem Bund Ersatzschlüssel gefunden.«
»Du hast einen Haufen Schlüssel gefunden und einen nach dem anderen durchprobiert, bis einer gepasst hat?«, fragte sie fassungslos.
Ian grinste verschmitzt und ein wenig stolz.
»Weiß Sonia davon?«, fragte Emma.
»Natürlich nicht.«
»Was befindet sich in dem Schrank?«
»Nichts Aufsehenerregendes. Zum einen die Personalakten, aber ich weiß ohnehin, was jeder hier verdient, weil ich ab und zu die Gehaltslisten bearbeite. Außerdem noch eine Menge Papier, Rechnungen, so was eben. Hat alles nicht viel Sinn ergeben.«
Für ihn vielleicht nicht, dachte Emma. Sie wollte sich lieber selbst ein Bild von dem Inhalt des Aktenschranks machen.
»Ich hätte gern den Schlüssel«, sagte sie.
Ian zögerte. Dann öffnete er den Mund, als wolle er widersprechen, doch Emma kam ihm zuvor.
»Ian, gib mir einfach den Schlüssel, in Ordnung?«
Er nickte und schluckte schwer.
»Wenn du irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen hierüber erzählst, bist du draußen, verstanden?«
»Das werde ich nicht. Ich sagte ja bereits, ich will dir helfen.«
Emma hörte Enthusiasmus und Einsatzbereitschaft in seiner Stimme. Genau das, was ich brauche,
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