Stadt der Schuld
Haushälterin de Burghs wieder auf. Jetzt war es kurz nach dem Lunch. Er würde Whitefell also noch am späten Abend erreichen. »Nun gut, Isobel«, sagte er müde. »Du wirst dann morgen nachkommen. Der Leichnam deines Vaters wurde, wie angeordnet, heute Morgen um neun Uhr zur Überführung abgeholt, steht hier. Vorhin hat sich übrigens Mrs Branagh noch angeboten, mich nach Whitefell zu begleiten. Sie wird die Organisation der Beerdigungsfeierlichkeiten überwachen. Es sei denn, du willst das selbst tun.«
»Nein!«, Isobel winkte ab. »Das kann Mrs Branagh gerne übernehmen, damit kennt sie sich besser aus. Ach, sag ihr bitte, sie soll meine Trauerkleidung bereitlegen. Es müsste noch etwas von der Beerdigung Daniels auf Whitefell eingelagert sein.« Offenbar hielt sie das Gespräch nun für beendet.
»Ja ...« Havisham erhob sich, doch dann zögerte er. Etwas neben dem starken Gefühl der Schuld, das ihn nach wie vor bedrängte, hinderte ihn, den Raum zu verlassen. Er wurde trotz allem den Eindruck nicht los, dass irgendetwas mit seiner Frau nicht stimmte. Er kannte sie gut genug. Ob sie doch etwas im Schilde führte?
»Was willst du noch von mir?«, herrschte Isobel ihn an. »Es ist doch alles besprochen jetzt. Kannst du nicht verstehen, dass ich allein sein möchte?« Sie verzog schmerzlich das Gesicht, als wolle sie beginnen zu weinen und wandte sich demonstrativ ab.
»Isobel, wir sollten nach der Beerdigung noch einmal miteinander sprechen. Es ist an der Zeit ...«
Ihre Antwort war überraschend kühl. »Wie du bereits sagtest, Horace: Es gibt nichts zu besprechen! Je eher du wieder normal wirst, desto besser. Und nun lass mich endlich allein.«
»Wie du meinst.« Er bedauerte ihre Weigerung durchaus, doch im Grunde hatte sie recht. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Die Schuld, die er ihr, ja ihrer ganzen Familie gegenüber auf sich geladen hatte, war nicht zu tilgen, schon gar nicht mit einem Gespräch. Und Meredith ... von Meredith hatte er immer noch nichts gehört. Stumm verließ er den Raum.
***
Wie sollte sie nur an die Adresse dieser Person kommen? Ob sie wirklich Green aufsuchen sollte? Das war, wenn auch ziemlich riskant, eine recht naheliegende Möglichkeit. Isobel nagte unentschlossen an ihrer Unterlippe und starrte aus dem Fenster der Mietkutsche. Havisham hatte ihr zwar den Brougham überlassen und sich mit der sehr schweigsamen Mrs Branagh den für Überlandfahrten geeigneteren Landauer genommen, aber sie würde den Teufel tun und in der eigenen Kutsche bei den Bakers vorfahren. Havisham durfte absolut nichts davon erfahren. Schlau hatte sie also zunächst im Brougham, den jetzt ein Gehilfe des Hauskutschers lenkte, eine Geschäftsstraße aufgesucht. Dann hatte sie den jungen Mann angewiesen, auf sie zu warten und ihm sogar ein paar Pennys für warmen Rum überlassen, die dieser freudestrahlend annahm. Doch auf ihre beiläufige Frage, ob er ihren Mann denn schon einmal zu den Bakers gefahren habe oder wisse, ob der Kutscher es getan habe, hatte er nur verständnislos den Kopf geschüttelt. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Kurze Zeit später hatte sie sich an einer anderen Straßenecke eine Mietkutsche genommen. Zwei bis drei Stunden mussten reichen, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Gerade rollte das Gefährt an der nächsten Ecke wieder an, als jemand den Verschlag aufriss und sich in den Wagen drängte. Isobel erschrak fast zu Tode, doch dann sah sie, dass es Armindale war. Er musste ihr gefolgt sein.
Spöttisch grinsend setzte er sich ihr gegenüber auf die Bank. »Mrs Havisham, wie ich sehe in geheimer Mission. Wo wollen Sie denn hin, meine Teuerste?«
»Geht Sie das etwas an?«, schnappte Isobel.
Er spitzte die Lippen. »Oh, ich denke schon. Schließlich arbeiten wir doch zusammen und sollten keine Geheimnisse voreinander haben, meinen Sie nicht auch?«
Es passte ihr nicht, dass Armindale sie erwischt hatte. Doch er wusste schließlich ebenfalls, wo die Bakers wohnten. Ob sie ihn einweihen sollte? Wie weit konnte sie diesem Mann trauen? Er ließ ihr jedoch keine Zeit, ihre Frage zu stellen.
»Sind Sie denn gar nicht neugierig, ob wir erfolgreich waren?«
Ach ja, das hatte sie über der Planung ihres eigenen Rachefeldzugs fast vergessen.
»Und?«, fragte sie betont beiläufig und sah aus dem Fenster.
Armindale lachte vergnügt. »Ach, kommen Sie, Mrs Havisham, Sie brennen doch geradezu darauf, es zu erfahren.«
»Nun, wenn Sie das meinen.«
Sein Lächeln wurde noch
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