Stadt der Schuld
abgetragenen Kleidern steckten. Das Haar war schwarz und dicht und unter den buschigen, ebenso schwarzen Brauen glühten seine Augen in einem dunklen Feuer. Der Mann strahlte eine deutliche Aggression aus. Ein Bettler oder bloßer Säufer schien er allerdings auch nicht zu sein. Cathy wandte bewusst den Blick ab und wollte weitereilen, als er sie ein zweites Mal zurückhielt: »Halt, ich kenn dich doch, Weib! Hab dich schon irgendwo gesehen.«
»Ich wüsste nicht, wo. Lassen Sie mich durch, ich habe zu tun!«
»Bist du nicht das Weib von Aaron Stanton, diesem feigen Hund?«
Cathy fuhr herum. »Wer ...?«
»Willst wissen, woher ich das weiß? Tja, John Pickett hat seine Augen überall!«
Cathy spürte, wie Furcht in ihr hochkroch. Was wollte der Kerl von ihr? Und woher kannte er sie? Der Mann lachte hämisch. »Ist Stanton jetzt schon so feige geworden, dass er sein Weib schicken muss, um abzusagen?«
»Abzusagen ...?«, wiederholte Cathy verständnislos, doch dann dämmerte es ihr, wen sie vor sich hatte. »Sie gehören zu den Chartisten, habe ich recht?«
»Jawohl, Ma'am!«, der Mann verbeugte sich grinsend vor ihr. Es sah aus, als klappe sich ein Messer zusammen. »Bill, der Trottel, denkt immer noch, dass Stanton es sich anders überlegt und mitmacht. Will ihn unbedingt dabeihaben. Aber ich hab ihm gleich gesagt, dass er da warten kann, bis er schwarz wird.« Er bedachte Cathy mit einem spöttischen Blick. »Hast deinen Holden ja ganz schön im Griff, Weib! Der lässt sich lieber den Schneid abkaufen, als dass er endlich was unternimmt gegen diese Ausbeuter. Aus Rücksicht auf seine Familie, behauptet er ... dass ich nicht lache!«
»Dann ist Aaron gar nicht bei Ihnen und den anderen?«
Pickett zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Zumindest bei mir hat er sich in letzter Zeit nicht gemeldet und bei Bill oder Dean, soweit ich weiß, auch nicht. Aber vielleicht hängt er ja jetzt mit den Lovett-Weicheiern herum, diesen Schwätzern. Oder ...«, er lächelte gemein, »ist er dir gar auf und davon gelaufen?«
Cathy senkte schnell den Blick. Sie wollte nicht, dass der Mann sah, wie sehr seine Worte sie trafen. »Danke für die Auskunft, Mr Pickett!«, sagte sie rasch. Wenigstens konnte sie es sich jetzt sparen, Dean Wolsley zu suchen. Aaron war offenbar nicht bei diesen Männern. Doch wohin war er dann gegangen?
»Mr Pickett, wenn Sie ihn sehen, würden Sie ihm ausrichten, dass ich ihn gesucht habe?«
Pickett zog hörbar seinen Rotz hoch und spuckte ihn direkt vor ihre Füße. Cathy ignorierte es. Hauptsache der Mann tat, worum sie ihn bat.
»Werd's mir überlegen. Aber vermutlich lässt sich der Hund eh nicht blicken!«
»Danke, Mr Picken! Diese anderen Männer, von denen Sie sprachen, die Leute von Lovett – wo kann ich die finden?«
»Weiß gar nicht, ob die sich heute treffen, aber wenn doch, dann sind sie im Eber an der Markthalle!«
»Markthalle, sagen Sie?« Sie seufzte. Das war einen ordentlichen Fußmarsch von hier entfernt, doch sie hatte keine andere Wahl.
***
Aarons Gliedmaßen waren eiskalt und klamm, als er endlich die Straße nach Birmingham erreichte. Die Straße war breit angelegt, um dem regen Verkehr zwischen den beiden Industriestädten genügend Raum zu geben. Zwar wurden die meisten Lasten über die Kanäle befördert, aber auch so gab es noch genügend Waren und Personen zu transportieren. Kein Wunder also, dass sich gerade hier die Bordelle breitmachten. Kunden gab es jedenfalls genug, die etwas Geld in der Tasche hatten. Einige der Häuser hatten schon wesentlich bessere Tage gesehen, andere waren hell erleuchtet und reger Publikumsverkehr herrschte davor. Aaron war sich jedoch sicher, dass unter diesen Absteigen nicht das Etablissement der Mrs Friwell zu finden war. Die betuchteren Kunden dieses Gewerbes schätzten mehr Diskretion. Angestrengt hielt er Ausschau nach Häusern, die einen weniger offenherzigen Eindruck vermittelten. Im oberen Bereich der Straße wurde er fündig. Drei der Häuser auf der rechten Straßenseite kamen seiner Ansicht nach infrage. Ohne Zögern machte er sich auf den Weg dorthin. Eine Droschke überholte ihn, hielt etwa fünfzig Yards entfernt, und entließ einen fein gekleideten Herrn, der, nachdem er den Kutscher bezahlt hatte, rasch die Treppe des ersten der drei Häuser erklomm, anklopfte, sich noch einmal schnell misstrauisch umsah und kurze Zeit später eingelassen wurde. Hier war er offenbar richtig. Aaron beschloss, den
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