Stadt der Schuld
breite Simse abgetrennt. Wenn es ihm gelang, diese zu erreichen, konnte er von außen in die erleuchteten Zimmer sehen. Nicht in allen brannte Licht. Er sollte es zumindest versuchen, sich so einen Überblick zu verschaffen, bevor er anderweitig nach einer Möglichkeit fahndete, in das Haus einzudringen. Leise schlich er die Fassade entlang und entdeckte an der anderen Ecke des Hauses ein festes, leiterähnliches Eisengestell, vermutlich dort angebracht, um das Dach zur Kaminreinigung erklimmen zu können. Mit wenig Mühe gelang es ihm, den ersten Sims zu erreichen. Der war allerdings schon bedenklich weit vom sicheren Boden entfernt. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder. Der Steinsims sah, aus der Nähe betrachtet, alles andere als vertrauenerweckend aus. Er bröckelte erheblich und wies etliche Risse und moosbewachsene Sprünge auf. Kein Wunder, dass sich die fragwürdige Besitzerin des Etablissements offenbar keine Sorgen machte, dass ein ungebetener Beobachter diesen Weg wählen könnte. Das war nämlich schlicht lebensgefährlich. Doch so leicht wollte Aaron nicht aufgeben. Schließlich konnte er es noch auf dem Sims im nächsthöheren Stockwerk probieren. Ohnehin brannten dort mehr Lichter als im unteren Bereich. Ganz oben konnte er nur ein einziges erleuchtetes Fenster ausmachen. Vorsichtig glitt er zurück zur Leiter und stieg rasch, aber jedes Geräusch vermeidend, weiter hoch.
Tatsächlich, der zweite Sims sah sicherer aus als der erste! Ohne zu zögern begann Aaron, den schmalen Mauervorsprung entlangzukriechen. Bald schon hatte er das erste Fenster erreicht und spähte hinein.
Sein schneller Blick offenbarte einen Raum, in dem ein älterer, fetter Mann mit weißem Backenbart sich gleich zwei Huren mit ins Bett genommen hatte. Allerdings schien der auf entsprechende Liebesdienste Hoffende nicht sehr aktiv zu sein. Mit ausgestreckten Gliedmaßen lag er nackt auf einem mit einem Baldachin überspannten Bett, während sich das eine spärlich bekleidete Weib – offenbar ohne rechten Erfolg – mit seinem schlaffen, schrumpeligen Gemächt abmühte. Die andere saß mit entblößtem Busen dabei und gähnte herzhaft. Aaron wandte sich angewidert ab. Das ging ihn nichts an. Keine der beiden war Mary.
Auch in den nächsten Zimmern, eines wie das andere üppig ausgestattet mit schweren Möbeln, goldgerahmten Spiegeln und ausladenden Betten, fand sich Mary nicht. Dafür aber alle Arten von sexuellen Vergnügungen. Die meisten der Männer trieben es zwar mit den Huren auf mehr oder weniger herkömmliche Weise – die Schreie und das Stöhnen der Beteiligten drang unüberhörbar durch die Fenster –, aber andere zogen es vor, sich auf besondere Weise verwöhnen zu lassen. In einem der Zimmer saßen gar fünf Männer beieinander, alle in seidene Gewänder gehüllt. Drei rauchten, die anderen beiden unterhielten sich. Champagner prickelte in den Gläsern und einige Mädchen und Frauen gaben sich offenbar die allergrößte Mühe, ihre unaufmerksamen Gäste mit ziemlich seltsamen erotischen Darbietungen zu unterhalten. Nur einer der Männer schien sich wirklich dafür zu interessieren. Unvermittelt stand er auf, packte eine der Frauen und entblößte mit schnellem Griff seinen erigierten Penis. Dann zog er das Weib hinüber zu einem mit rotem Samt bespannten Sofa und nahm sich ohne Umschweife, was er wollte. Aber so sehr Aaron sich auch bemühte, in dem recht unübersichtlichen Gewühl des Raums Mary zu entdecken, er fand sie nicht.
In ihm keimte die Hoffnung auf, dass sie vielleicht gar nicht als Hure eingesetzt wurde, sondern möglicherweise nur als gewöhnliche Dienstmagd. Auch in einem solchen Haus musste schließlich jemand sauber machen und kochen. Das hätte er dem Mädchen jedenfalls weit mehr gewünscht, als dass sie sich in dieser abstoßenden Weise würde benutzen lassen müssen von Männern, die in den bedauernswerten Weibern nicht mehr sahen als einen Gebrauchsgegenstand für die Befriedigung ihrer niederen Gelüste. Die verächtliche Dekadenz in den Augen der vier, die jetzt feixend ihrem kopulierenden Kumpan zusahen, schürte Aarons Zorn aufs Neue. Geld und Abstammung gaben diesen widerlichen Kerlen scheinbar jedes Recht.
Ob er noch im Stockwerk darüber nachsehen sollte? Vielleicht war es ja doch sinnvoller, im unteren Bereich des Hauses nach Mary zu suchen. Aaron überlegte kurz, beschloss dann aber, es zu wagen und noch weiter nach oben zu steigen.
Der Weg zurück zur Leiter war schwieriger
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