Stadt der Schuld
danach zu fragen. Mrs Ashworth war gut doppelt so alt wie sie selbst und durchaus respekteinflößend. Doch obwohl diese – wie immer – gut gekleidet, perfekt frisiert und ganz Dame war, empfand Mary-Ann nichts als Mitleid mit Deodra Ashworth, die ihr unübersehbar unglücklich gegenübersaß.
»Ach, er betrügt mich«, brach es aus ihrem Gast heraus. »Nichts Ernstes, natürlich. Er nimmt sich diese jungen Dinger aus der Fabrik und vergnügt sich mit ihnen. Ich weiß, dass ich eigentlich Stillschweigen darüber bewahren sollte, das wird ja von uns Ehefrauen erwartet, nicht wahr? Aber es kränkt mich zutiefst.« Ihre Finger verkrampften sich um den zierlichen Henkel der Tasse. »Für mich hat er dagegen keinen Blick mehr.«
»Oh!« Mit dieser Offenheit hatte Mary-Ann nun doch nicht gerechnet. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. So mancher durchaus ehrenwerte Gentleman ging solchen zweifelhaften Vergnügungen von Zeit zu Zeit nach. »Es tut mir so leid, Deodra«, sagte sie leise.
»Ja, mir tut es auch leid!«, gab diese zurück. Bitterkeit schwang in ihrer Stimme. »Nun, lassen wir das. Eigentlich bin ich gekommen, um mich nach Ihren Plänen mit der Schule für die Arbeiterkinder zu erkundigen. Ein erstaunliches Vorhaben, wirklich! Ich erwähnte es kürzlich gegenüber Mrs Plummer, Sie wissen, die Frau des Bankiers. Ich traf sie auf einem Empfang in Billings House.« Deodra lächelte gezwungen. Auch zu dieser Einladung war sie allein gegangen. Henry und sie gingen sich seit dem Vorfall mit dieser kleinen Schlampe geflissentlich aus dem Weg. Allein der Gedanke an den Anblick dieses nackten, jungen Mädchens in seinem Bett machte sie rasend. »Sie wollte mir erst nicht glauben und hielt es darüber hinaus für eine unsinnige Idee. Aber dann begann sie sich doch zu erwärmen. Sie hat vorgeschlagen, einen Wohltätigkeitsbasar zur Finanzierung zu organisieren. Ist das nicht ein wunderbarer Vorschlag?«
»Tatsächlich?« Mary-Anns Augen leuchteten auf. Der vage Plan für eine Schule für Arbeiterkinder war ihr angesichts des allgegenwärtigen Elends in den Straßen Manchesters gekommen und nicht zuletzt durch die beiläufige Bemerkung von Mr Cobden gegenüber Aaron Stanton endgültig befördert worden. Für eine bessere Anstellung müsse man lesen und schreiben können, hatte Mr Cobden gesagt – und wo er recht hatte, hatte er recht. Es war doch nur naheliegend, den Kindern der unterprivilegierten Massen in Manchester und vielleicht dann auch in anderen Städten auf diesem Wege ein menschenwürdigeres Dasein zu ermöglichen. Denn dass diesbezüglich irgendetwas geschehen musste, das war für Mary-Ann Fountley so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. So konnte es einfach nicht weitergehen! Das Leid dieser geplagten Menschen machte sie sprachlos. Vor allem das Erlebnis mit Stantons Frau, die ihr Kind unter diesen schrecklichen Umständen in der Fabrik zur Welt bringen musste, hatte sie nicht mehr losgelassen. Die arme Frau hatte zwar unverständlicherweise ihr Patenschaftsangebot ausgeschlagen, aber wohl nur, um ein gegebenes Wort zu halten. Eigentlich eine noble Geste, die auf einen gefestigten, aufrichtigen Charakter schließen ließ. Sie hatte immer wieder daran denken müssen – noch mehr, seit sie den Vater des Kindes wieder gesehen hatte. Sie runzelte die Stirn bei der Erinnerung an das zufällige Zusammentreffen während der Besichtigung von Ashworths Fabrik. Der Mann hatte doch an einer der Baumwollmaschinen gearbeitet, als das Kind geboren worden war, wenn sie sich recht erinnerte. Wieso hatte Ashworth ihn dann zu den Heizern versetzt? Inzwischen wusste sie, dass diese Arbeit alles andere als ein einfaches Brot war und nur von armen Kerlen verrichtet wurde, die nichts anderes bekommen konnten. Meistens waren es deshalb Iren, die sich die Plackerei antaten. Wieso befand sich Stanton nun unter diesen bedauernswerten Männern? Ob Ashworth ihn auf diese Weise für den Vorfall mit seiner Frau bezahlen ließ? Denkbar wäre es ...
Die Frage danach lag ihr schon auf der Zunge. Doch dann entschied sie sich dagegen. Es war vielleicht doch besser, sie vermied das Thema Henry Ashworth für den Rest des Nachmittags gegenüber ihrem Gast. Das hätte sonst gewiss noch mehr Missstimmung erzeugt.
»Ein Wohltätigkeitsbasar?«, fragte sie also, großes Interesse vorschützend. Tatsächlich wäre es ihr stattdessen weitaus lieber gewesen, wenn einer der Fabrikbesitzer ihr ein Gebäude zur Verfügung
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