Stadt der Schuld
Übermacht, aber der Mann flößte selbst ihm eine unbestimmte Furcht ein. »Ich werde diese Frau allein befragen, verstanden?«
Der Hüne hob eine Augenbraue, sein beängstigendes Lächeln wich nicht einen Moment aus seinem Gesicht. »Wenn du es wünschst.«
»Ich wünsche es.«
Rasch schob Armindale die Hure in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Doch wenn er gehofft hatte, sie würde sich weniger ängstigen, sobald sie den Blicken dieses furchterregenden Inders entgangen war, dann hatte er sich getäuscht. Ihre Anspannung stieg eher noch. Vermutlich würde er nicht ein einziges Wort aus ihr herausbringen.
Verärgert trat er auf sie zu und hob ihr Kinn an. Die inzwischen verheilte Wunde war ihr eindeutig mit einem Messer oder einer anderen scharfen Klinge beigebracht worden. Jetzt sah er, dass sie sich in einem glatten Schnitt vom rechten Ohrläppchen bis zur Mitte der Wange zog. Das Ohrläppchen auf der linken Seite fehlte gänzlich. Diese Frau war eindeutig gequält, ja gefoltert worden.
»Wer war das?«, fragte Armindale mit gesenkter Stimme.
Die Frau schüttelte den Kopf und presste die vollen Lippen aufeinander.
»Du kannst es mir sagen, es wird dir nichts geschehen«, versicherte Armindale ihr.
Wieder schüttelte die Frau den Kopf.
Auf diese Weise würde er nicht viel aus ihr herausholen. »Willst du mitkommen und bei der Hafenpolizei eine Aussage machen? Vielleicht fühlst du dich sicherer, wenn er nicht in der Nähe ist.«
Ein bitteres Lachen war das Einzige, was er erntete.
»Hat er dir diese Narbe zugefügt?«
Jetzt hob sie den Blick und sah ihn für einen Augenblick an. Nackte Angst flackerte in ihren Augen.
»Bitte, ich darf nichts sagen.«
Armindale ignorierte es. »Kennst du einen Horace Havisham? War er einmal hier, zusammen mit Chadwick Eastman? Du brauchst nicht zu leugnen, dass Mr Eastman hier verkehrt hat, ich weiß es genau. Ich weiß auch, dass es ihm eine von euch Huren besonders angetan hat, eine mit dem Namen Ngina.«
Die Frau starrte jetzt wieder unverwandt auf ihre Füße, kein Wort kam über ihre Lippen. Aber die Art und Weise, wie sie zusammenzuckte, als der Name Havisham fiel, war Beweis genug für ihn. Sie kannte ihn.
»Gut, dir ist der Name also bekannt. Weißt du, wo sich dein früherer Arbeitgeber aufhält? Wir suchen dringend nach John Sagar Trumble. Wo ist er?«
Plötzlich erbebte sie heftig. Ihre Hände erhoben sich flehend. »Bitte, Sir, er wird mich umbringen.«
»Wer, Trumble?«
»Nein!«
»Wer dann?«
Sie starrte in Richtung der Tür, hinter der jetzt wieder die dröhnende Stimme des Inders zu vernehmen war, der mit dem sichtlich verwirrten Fenshore plauderte, als handele es sich bei ihrem Eindringen um einen Besuch von Freunden.
»Ist Trumble etwa nicht freiwillig verschwunden?«
»Bitte, Sir, Sagar Mr Trumble hat einen großen Fehler gemacht. Er hätte das nicht tun dürfen. Fragen Sie mich nicht, ich weiß nichts.«
Plötzlich rannte sie an ihm vorbei auf die Tür zu, riss sie auf und stürzte hinaus. Armindale, der von diesem Ausbruch völlig überrascht wurde, lief hinter ihr her, doch sie war schneller.
»Haltet sie, sie weiß etwas!«, schrie Armindale den wartenden Polizisten zu.
Die Frau war nur fünf Schritte von ihm entfernt. Er streckte die Hand aus. Sie würde ihm keinesfalls entwischen. Warum rannte sie dann davon?
Doch dann, ganz plötzlich, stolperte sie und fiel wie ein Sack zu Boden. Armindale hielt vollkommen verdutzt inne. »Was ...?«
Wie von Ferne hörte er Fenshore schreien: »Sind Sie des Wahnsinns?!« Die Huren kreischten allesamt hysterisch durcheinander.
Dann sah er das Blut. Es breitete sich um die Frau aus. Still, unaufhaltsam kroch es über die Holzdielen. Armindale starrte fassungslos darauf. Er war außerstande sich zu rühren. Schließlich trat der Brigadeführer auf die Frau zu und drehte sie um. Ein indischer Dolch steckte bis zum Heft in ihrer Brust.
»Nehmt den Kerl fest!«, quiekte Fenshore mit hochrotem Gesicht, was einen seltsamen Kontrast zu seinem hellblonden Schnurrbart bildete. Zwölf Mann umringten den Inder im nächsten Augenblick, doch den schien das nur zu amüsieren, fast als ginge ihn das alles nichts an. Lässig rückte er die nunmehr leere Dolchscheide in seinem breiten Gürtel zurecht. Er warf Armindale einen triumphierenden Blick zu und grinste noch einmal spöttisch. Dann ließ er sich ohne Gegenwehr abführen.
Kapitel 44
Hügelland im Osten Manchesters,
zur gleichen Zeit
Kapitel
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