Stadt der Schuld
noch zwei Stunden zurückziehen, bis wir aufbrechen. Mache dir nicht zu viele Gedanken, Isobel. Godfrey wird dir raten können. Es wird sich sicher alles zum Guten wenden für dich und deinen Gatten. Bestimmt ist dieser schlimme Verdacht völlig unberechtigt.«
Isobel schenkte ihr einen warmen Blick. »Danke, Mary-Ann, du bist ein wahrer Engel. Ich bin wirklich froh, sehr froh, hier sein zu dürfen, und das nach all den bedauerlichen Missverständnissen, die es zwischen uns gab.«
Mary-Ann glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. War das noch Isobel Havisham, ihre kaltherzige, berechnende Cousine? Oder verstellte sie sich nur außerordentlich gekonnt? Sie beschloss, abzuwarten. »Lass uns einfach nicht mehr davon sprechen, Isobel.«
Diese stand auf und ergriff ihre Hand. »Gewiss doch, liebste Cousine«, hauchte sie.
***
Cathy hatte den Besuch der Damen bereits erwartet. Mary-Ann Fountley hatte Mr Croach am Vortag eine Note zukommen lassen, in der sie die Besichtigung der Schule für den frühen Nachmittag angekündigt und gebeten hatte, die Schüler etwas länger dazubehalten, damit die Damen noch einen Einblick in das Unterrichtsgeschehen nehmen könnten. Es sei sehr wichtig. Mr Croach hatte deshalb sogar seinen besten Gehrock angezogen, der, wie es schien, ein wohlgehütetes Überbleibsel aus glücklicheren Tagen darstellte. Seine durch das Alter gebeugte Gestalt bildete einen grotesken Gegensatz zu dem feinen Tuch, aber er war geradezu rührend in seiner Würdigkeit.
Nun also stiegen die Damen die schmale Holzstiege hinauf zum Klassenzimmer der Mädchen. Die kleinen Schülerinnen hinter ihren Schulbänken begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln und betrachteten die fein gekleideten Besucherinnen, die in den engen Raum drängten, mit großen Augen. So eine Ansammlung herausgeputzter Damen bekam man schließlich nicht alle Tage zu sehen. Cathy legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und sah sie streng an. Augenblicklich verstummte das Wispern. »Machen Sie sich bitte keine Umstände, liebe Mrs Stanton, wir wollen Sie keinesfalls stören, nur ein wenig zusehen, wie die Mädchen lernen«, sagte Mary-Ann Fountley und trat noch einen Schritt zur Seite, damit das gute Dutzend Besucherinnen irgendwie doch Platz in dem schmal geschnittenen Dachzimmer finden konnte. Alle passten nicht hinein. »Die Jungen unten haben wir schon besucht, aber meine Begleiterinnen interessieren sich naturgemäß vor allem für den Unterricht der Mädchen.« Sie lächelte Cathy aufmunternd zu, die sich daraufhin ihren Schülerinnen zuwandte. »Nun, Elly, wo waren wir stehen geblieben? Willst du mit dem Vorlesen fortfahren? Habe keine Furcht.« Stockend begann das von ihr ausgewählte Kind zu lesen, ein mageres Geschöpf mit braunen Haaren, Tochter irischer Arbeiter, dabei aber außerordentlich lernbegierig. Bald fasste die Kleine jedoch Selbstvertrauen und die Worte kamen flüssig und fehlerlos von ihren Lippen.
Aus dem Kreise der erlauchten Beobachterinnen war jetzt so manches erstaunte »Oh!« zu hören, was Cathy mit gelindem Stolz erfüllte. Man hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass Arbeiterkinder – und noch dazu Mädchen – so schnelle Fortschritte in der Kunst des Lesens machen würden. »Danke, Elly! Das hast du sehr gut gemacht.« Cathy wandte sich den Damen zu. »Die Mädchen erlernen hier grundlegende Fähigkeiten für eine ...« Plötzlich drängte sich rücksichtslos eine blonde Frau durch die dicht zusammenstehenden Besucherinnen. Cathy hatte sie, weitgehend verborgen hinter den ausladenden Hüten und Roben der anderen, bisher gar nicht bemerkt.
Es war Isobel.
Cathy war so schockiert, dass ihr für einen Augenblick die Luft wegblieb. Auch Isobel zeigte Anzeichen größter Erregung. »Diese Frau ist eine Betrügerin!«, schrie sie mit schriller Stimme. Ihre Gesichtsfarbe wechselte rasch zu hysterischem Rot. »Ihr Name ist nicht Stanton, ich kenne sie!«
»Aber Isobel, was redest du denn da?« Mary-Ann ergriff ihre aufgebrachte Cousine beim Arm. »Das muss ein Irrtum sein! Mrs Stanton ist gewiss über jeden Zweifel erhaben. Sie ist eine ausgezeichnete Lehrerin und vertrauenswürdige Person.«
»Nein!« Isobel stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Ich weiß es genau. Ihr Name ist Stutter, Cathy Stutter und sie wird von der Polizei gesucht.«
Cathy stand wie erstarrt. Ihr schlimmster Albtraum war plötzlich Wirklichkeit geworden. Die Mädchen starrten mit offenem Mund und ängstlich aufgerissenen Augen, die
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