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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Ruth Landys
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    Mühsam rappelte sich Aaron hoch. Dumpfer Schmerz kroch durch seinen unterkühlten Körper und sein Magen knurrte vernehmlich. Seit fast drei Tagen hatte er nichts mehr gegessen. Ein feiner Hauch von Raureif lag auf seinen Haaren und dem dürren Heidekraut um ihn her, doch aus dem Boden stieg schon sanft der Duft des nahenden Frühlings auf. Vielleicht würde die Sonne doch noch herauskommen und ihn gnädig etwas aufwärmen. Jetzt lag morgendlicher Nebel zäh ausgegossen über den endlos geschwungenen Hügeln des Heidelandes. Aaron erhob sich ganz und versuchte vergeblich, seine eiskalten Glieder zu erwärmen, indem er auf und ab ging und mit den Armen schlug. Leider nutzte es nicht viel, er fror entsetzlich. Stattdessen stellte sich nun Schwindel ein und ein wohlbekannter, stechender Schmerz in der Lunge. Er hatte es am Vortag schon gespürt: die Krankheit kehrte zurück. Ein Hustenanfall würgte ihn plötzlich und er beugte sich schnell nach vorn, um wieder zu Atem zu kommen. Keuchend spuckte er ein wenig gelben Schleim aus. Noch eine solche Nacht würde er nicht durchhalten, das war keine Frage. Es war einfach noch zu früh im Jahr, um im Freien zu nächtigen. Außerdem wurde der Hunger langsam zum ernsten Problem. Er brauchte dringend etwas zu essen, aber es gab weder Beeren noch wilde Knollen in dieser kargen Jahreszeit, er hatte auch nichts, mit dem er hätte jagen können. Steifbeinig wankte er hinunter zu dem kleinen Bachlauf, der sich am Fuße des Hügels durch das flache Tal schlängelte, ließ sich stöhnend auf die Knie fallen und stillte wenigstens seinen Durst. Konnte er es wagen und bei einem der Kleinbauern der Umgebung um Nahrung bitten? Nein, das war zu gefährlich, genauso wie es viel zu gefährlich war, sich irgendwie zu Cathy durchzuschlagen. Das verbot sich von selbst. Sicher wurde bereits nach ihm gefahndet und in der Schule, in der Cathy und die Kinder nun Zuflucht gefunden hatten, würden sie zuerst nach ihm suchen. Die Vorgänge in der Scheune sprachen eindeutig gegen ihn. Er schluckte mühsam. Außerdem wollte Cathy nach allem, was geschehen war, sicher ohnehin nichts mehr von ihm wissen. Ein heftiges Gefühl der Scham stieg in ihm auf. Mühsam kämpfte er es nieder. Er durfte sie nicht erneut in Schwierigkeiten bringen, nicht nach all dem, was er ihr und Klein-Mary angetan hatte. Dennoch: Er brauchte dringend Hilfe und einen Ort, wo er sich für einige Zeit verstecken konnte.
    Liam!
    Der Gedanke an den leutseligen, irischen Riesen, der sich mit ihm Tag für Tag in Ashworths Feuerhölle abgerackert hatte, durchzuckte ihn wie eine Erleuchtung. Liam würde ihm vielleicht für ein paar Tage Unterschlupf gewähren, bis sich das Schlimmste gelegt hatte. Auch wenn es gefährlich war, aber in Manchesters unübersichtlichen Slums unterzutauchen, war wohl die beste aller schlechten Möglichkeiten. Er musste es wagen!
    Hastig stand er auf und machte sich auf den Weg.
    ***
    Eine Kutsche rollte wenige Stunden später auf den Vorplatz von Queens Park und hielt knirschend auf dem hellen Kies. Mary-Ann hatte das Geräusch erwartet, trotzdem erfasste sie jäh eine Welle nervöser Anspannung. Sie stand von ihrem Damensekretär in der Bibliothek auf und trat zum Fenster. Ja, es war tatsächlich Isobel, die da gerade aus der Kutsche stieg. Ihre selbstbewusste Haltung war unverkennbar und das blonde Lockenhaar leuchtete in der Morgensonne, die endlich den Kampf mit den morgendlichen Nebelschwaden gewonnen hatte.
    »Du hast es versprochen, Mrs Fountley!«, schalt sich Mary-Ann selbst. Noch vor kaum einer Stunde hatte Godfrey, bevor er sich wie jeden Tag nach Manchester aufmachte, begütigend auf sie eingeredet und sie hatte ihm versprochen, ihrer Cousine mit nachsichtigem Wohlwollen zu begegnen. Dieses Versprechen einzuhalten, schien ihr mehr denn je schwierig. Dann aber zögerte sie nicht länger und verließ entschlossenen Schrittes die Bibliothek, um sich in die Eingangshalle von Queens Park zu begeben. Schließlich sollte ihre ungeliebte Cousine sich nicht von Anfang an über mangelnde Gastfreundschaft beklagen können.
    »Mary-Ann!«, begrüßte Isobel sie, kaum dass sie ihrer ansichtig geworden war. Der demonstrativ aufgesetzte Gesichtsausdruck von seelischem Leid war nicht zu übersehen. Sie breitete in offensichtlicher Gemütsbewegung die Arme aus. »Ich bin so froh!« Mary-Ann ertappte sich bei dem Gedanken, dass Isobel diesen überaus effektvollen Auftritt wohl längere Zeit vor dem Spiegel geübt

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