Stadt der Schuld
Isobel? Er war nur ein unschuldiger Junge. Und du ...«, Cathy schossen plötzlich Tränen in die Augen, »du hast mein Kind getötet! Du hast unser ungeborenes Kind getötet, du Mörderin! Ich werde nicht schweigen, wenn du mich nicht in Ruhe lässt, Isobel Havisham, denk darüber nach!« Ein ersticktes Schluchzen würgte sie, doch sie gab nicht nach.
Isobel setzte sich. »Nun gut, Cathy! Nehmen wir an, ich gehe darauf ein, nehmen wir an ...«
»Das will ich dir raten, Isobel Havisham!«
»Du wirst schweigen?«
»Wenn du uns endlich in Ruhe lässt ...«
»Nun, vielleicht, wir werden sehen. Ich fürchte nämlich, du überschätzt deine Stellung hier erheblich, Cathy.«
Cathy richtete sich zu ganzer Größe auf und sah Isobel in die Augen. »Bist du dir da ganz sicher, Isobel? Willst du es auf einen Versuch ankommen lassen?«
Isobel zuckte demonstrativ gleichmütig mit den Achseln, doch Cathy bemerkte wohl, dass sie etwas zutiefst beunruhigte. Sie kannte sie in und auswendig. »Nun ja, vielleicht jetzt nicht«, sagte Isobel gedehnt. »Also dann, nennen wir es ... wie sagte meine liebe Cousine doch vorhin?« Sie lächelte spöttisch. »Eine bedauerliche Verwechslung.«
Sie ging zur Tür. »Du brauchst dich nicht zu bemühen, ich werde es Mary-Ann erklären. Ich hoffe sehr, unsere Wege kreuzen sich nie wieder, Cathy Stanton.«
Im nächsten Moment war sie verschwunden. Cathy sank einfach dort, wo sie stand, zu Boden. Sie zitterte am ganzen Leib und doch konnte sie es selbst kaum glauben: Sie, Cathy Stutter, hatte es gewagt, Isobel de Burgh die Stirn zu bieten und sie hatte zum ersten Mal gesiegt.
Kapitel 45
London, Tothill Fields Prison,
Untersuchungstrakt
Kapitel 45
Haben Sie die Permission des zuständigen Inspectors bei sich, Mr Gruber?«
»Ja!«, murrte Gruber unwillig. Seit drei Tagen versuchte er nun Zugang zu Horace Havisham zu bekommen, doch eher bekam man Einlass in den Safe der Bank von England. Man hatte ihn wieder und wieder abgewiesen und mit bürokratischen Formalien überhäuft. Ein persönliches Erlaubnisschreiben dieses Inspectors Hunt war nun also auch noch notwendig geworden. Erst als er vorbrachte, trotz der widrigen Umstände dringend mit seinem Brotherrn über die bevorstehende Aussaat auf Whitefell und über die Klärung der Konten sprechen zu müssen, hatte dieser ihm das Schreiben widerwillig ausgestellt. Schließlich hatte das für die Anklage zuständige Gericht – tatsächlich war der Fall Havisham ohne Umschweife direkt an den High Court verwiesen worden von ihm Einsicht in den ganzen Besitz und sämtliche Konten des Angeklagten verlangt. Aber das war beileibe nicht der einzige Grund gewesen, warum er, kaum dass das Gerichtsschreiben ihn erreicht hatte, Hals über Kopf nach London gereist war.
Der Wärter schloss ihm die Zelle, die in einem gesonderten Trakt des Tothill Fields gelegen war, auf. »Rufen Sie, wenn Sie hinausgelassen werden wollen, Sir. Ich werde es hören.«
»Ja, danke!«
Er trat ein. Horace Havisham bot, wie er es erwartet hatte, ein Bild des Jammers. Er hatte zwar als Repräsentant des Unterhauses das Privileg, eine einigermaßen saubere Einzelzelle bewohnen zu dürfen, die zudem mit ein paar einfachen Möbeln bestückt war, aber trotzdem wirkte Horace Havisham nahezu apathisch. Der einst so selbstbewusste, stattliche Mann hatte sich in einer Ecke des Raums zusammengekauert und reagierte kaum, als Gruber hereinkam.
Gruber ging auf ihn zu und berührte ihn an der Schulter. »Sir, Mr Havisham, wie geht es Ihnen?«
Mit teilnahmslosem Blick sah Havisham zu ihm auf: »Gruber, Sie kommen mich hier besuchen? Warum?«
»Sir, wir alle machen uns schreckliche Sorgen.«
Havisham lachte leise. »Dazu haben Sie auch allen Grund. Sie werden sich bald alle eine andere Stellung suchen müssen, Mr Gruber. Und so leid es mir tut, mit einem Empfehlungsschreiben werde ich auch nicht mehr dienen können.«
Die Hoffnungslosigkeit, die in diesen Worten mitschwang, erschütterte den Verwalter zutiefst. »Sir, Sie reden, als habe man Sie schon verurteilt. Warum kämpfen Sie nicht gegen diese ungeheuerliche Anschuldigung an? Man teilte mir mit, Sie weigerten sich sogar, juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen, so wie es Ihnen von Rechts wegen und nicht zuletzt aufgrund Ihrer herausgehobenen Stellung jederzeit zustünde.«
»Ha, meine herausgehobene Stellung ... Ich sage Ihnen etwas, Gruber, ich pfeife auf meine herausgehobene Stellung. Die habe ich nämlich, weiß Gott, nicht
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