Stadt der Schuld
an. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Das ganze Haus war inzwischen in hellem Aufruhr. Selbst Mrs Branagh, die versucht hatte, zu Mr Havisham durchzudringen und ihn zum Herauskommen zu bewegen, war unverrichteter Dinge wieder in die Gesinderäume zurückgekehrt. Die einzige Person im Hause, die unberührt vom seltsamen Verhalten des Hausherrn schien, war seine Gattin. »Er wird wieder herauskommen, wenn er es für richtig hält«, hatte sie mit einem Achselzucken dem aufs Höchste besorgten Blidge mitgeteilt. »Schließlich kann er ja nicht ewig da drin hocken.«
Man hatte sogar erwogen einen Arzt hinzuzuziehen, aber davon wollte die Herrin nichts wissen. Sie wollte kein Aufsehen erregen. Das wiederum konnte Pool verstehen. Sollte ruchbar werden, dass der Abgeordnete Havisham womöglich einer Art Melancholie oder Gemütskrankheit anheimgefallen war – und dieser Verdacht lag nahe –, dann würde das dem Ruf und damit auch der Karriere seines Herrn sicher Schaden zufügen. Mit derartig sensiblen Informationen musste man höchst sorgsam umgehen. Auf jeden Fall durfte nichts davon nach außen dringen.
Ohne viel Hoffnung auf Erhörung klopfte er an die Zimmertür.
»Sir? Sir, hören Sie mich?« Er klopfte vorsichtig noch ein zweites Mal. »Unten in der Halle wartet ein Gentleman, der mit Ihnen sprechen möchte. Es handelt sich um einen Mr Rupert Baker. Er sagt, er sei der Sohn Ihres Geschäfts...« Pool konnte den Satz nicht beenden. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Mr Havisham stand vor ihm. Bleich, mit rotgeränderten, tief umschatteten Augen, das blonde Haar ungekämmt und in wirren Locken – ein schockierender Anblick! Sonst war dieser doch immer so auf ein würdiges, Respekt einflößendes Auftreten bedacht.
»Rupert Baker, sagen Sie? Pool, ist das wahr?« Der Herr des Hauses starrte ihn wild an. Pool war kaum imstande, sich von seiner Überraschung über die durchschlagende Wirkung seiner Ankündigung zu erholen. Er brauchte einen Augenblick, bis er wieder zu seinem üblichen, einem Butler angemessenen Ton zurückfand. »Ja, Sir! Er erwartet Sie unten in der Halle. Soll ich ihn in den Salon bitten?«
»Ja! Nein, warten Sie! Bitten Sie ihn ins Herrenzimmer. Ich werde gleich herunterkommen. Schicken Sie mir Blidge, aber sofort! Ich muss mich schnell umziehen und frisch machen.«
»Aber mit größter Freude, Sir! Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, wir waren sehr in Sorge um Sie!«
Sein Herr starrte ihn verständnislos an. »Das ist nicht nötig, Mr Pool. Um mich braucht sich kein Mensch zu sorgen.«
Pool ruderte sofort zurück: »Verzeihen Sie, Sir! Selbstverständlich! Ich freue mich jedenfalls, dass es Ihnen wieder gut geht. Ich werde jetzt nach Blidge schicken, Sir.«
»Ja, tun Sie das! Sputen Sie sich! Und hören Sie, Pool ...«, Mr Havisham senkte die Stimme, »die Anwesenheit Mr Bakers in diesem Hause braucht nicht an die große Glocke gehängt zu werden. Insbesondere ist es nicht nötig, die Herrin davon in Kenntnis zu setzen. Haben Sie mich verstanden?«
Pool nickte irritiert. Was um alles in der Welt ging hier vor? Aber der Wunsch seines Herrn war ihm oberster Befehl. Wenn Mr Havisham geruhte, eine geheime Unterredung mit diesem Gentleman über was auch immer führen zu wollen, war es nicht seine Sache, darüber zu tratschen.
***
»Mr Havisham, ich bin froh, dass Sie sich die Zeit nehmen ...« Rupert Baker war erwartungsvoll von seinem Sessel in der Nähe des Kamins aufgestanden, als Havisham, wieder in einem menschenwürdigeren Aufzug, den Herrensalon betrat.
»Mr Baker, im Gegenteil, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich herbemüht haben. Seit Tagen ringe ich mit mir, ob ich Ihnen schreiben soll, aber nun haben Sie selbst die Dinge in die Hand genommen. Ich bin fast froh darüber, obwohl ich das wohl nicht sein sollte.«
Havisham forderte seinen Gast mit einer Handbewegung dazu auf, wieder Platz zu nehmen. Dieser setzte sich und sah seinem Gastgeber mit einer seltsam entschlossenen Offenheit ins Gesicht. »Mr Havisham ...«, begann er, doch der unterbrach ihn hastig.
»Mr Baker, bevor Sie weitersprechen ... es tut mir außerordentlich leid, was da in diesem Kaffeehaus vorgefallen ist. Ich wollte Ihre Gattin keinesfalls kränken oder kompromittieren. Ganz im Gegenteil, Ihre Gattin ist das gütigste und bewundernswerteste Wesen, das mir je begegnet ist und verdient meine uneingeschränkte Hochachtung. Es lag wirklich nicht in meiner Absicht ...«
Rupert Baker lächelte
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