Stadt der Schuld
gegenüberliegende Straßenseite säumten, gewählt, aber nun erwog er, die Sache für heute auf sich beruhen zu lassen.Er fror entsetzlich, trotz des warmen Garricks 26 , den er bei solchen Observationen zu tragen pflegte. Aufwendige Verkleidungen, wie sie Scotland Yards Ermittler seit Neuestem favorisierten, hielt er für albernen Firlefanz. Ein nicht zu auffällig gekleideter Gentleman, wie sie zu Hunderten durch Londons Straßen eilten, erregte nach seiner Erfahrung den geringsten Verdacht. Zumindest in einer Gegend wie dieser. Er zog seinen Schnupftabak aus der Tasche, genehmigte sich eine Prise und nieste dann herzhaft in der Hoffnung, der Erkältung vorzubeugen, die er sich gewiss holte, wenn er sich noch länger hier die Beine in den Bauch stand. Vielleicht hatte er ja morgen mehr Glück. Irgendwann musste Havisham doch wieder aus seinem Loch herauskriechen!
Da bemerkte er plötzlich einen Fußgänger, der mit zielgerichtetem Schritt den Eingang zum Haus der Havishams anpeilte. Diesen sehr unerwarteten Besucher kannte er jedenfalls wie seine Westentasche. Er hätte ihn nachts mit verbundenen Augen erkannt, so lange, wie er ihm in Havishams Auftrag nachspioniert hatte. Es war Rupert Baker. Was der wohl hier wollte? Nach allem, was vorgefallen war, konnte sich Armindale nicht vorstellen, dass zwischen den beiden ein gutes Verhältnis bestand, geschweige denn überhaupt eines. Das versprach, interessant zu werden. Armindale beschloss, noch etwas länger zu bleiben, möglicherweise konnte er doch noch das eine oder andere in Erfahrung bringen.
***
»Sie wünschen, Sir?« Der Butler der Havishams war höflich, aber misstrauisch. Ein Besuch kam derzeit in diesem Hause nicht gerade gelegen. Außerdem kannte er diesen Gentleman nicht, der da modisch und für einen Mann entschieden zu sorgfältig gekleidet vor ihm stand. Doch die Manieren des Mannes ließen jedenfalls keinen weiteren Verdacht aufkommen, es könne sich womöglich um einen dieser neugierigen Reporter handeln – das war momentan die größte Furcht im Hause. Offenbar war die Presse ja schon auf das besorgniserregende Verhalten des Hausherrn aufmerksam geworden, wie auch immer das zugegangen sein mochte. Wie sonst konnte man es sich erklären, dass dieser merkwürdige Mensch in dem Pelerinenmantel, das Gesicht unter einem breitkrempigen Bowler verborgen, schon seit Tagen vor dem Haus herumstrich. Der Butler war jedenfalls auf der Hut.
Mit knappen Worten brachte der Besucher sein Anliegen vor: »Mein Name ist Rupert Baker. Hier ist meine Karte. Würden Sie mich bitte bei Mr Havisham melden? Ich hätte etwas mit ihm zu besprechen.«
»Sie sind Mr Havisham bekannt, Sir?« Der Butler hielt es allerdings für angeraten, das zu fragen. Womöglich versuchte ja jemand, sich auf diese Weise Zugang zum Haus zu verschaffen.
»Selbstverständlich. Wir sind Geschäftspartner. Mr Havisham ist Hauptgesellschafter der Baker-Webereien, die meinem Vater gehören.«
Der Bedienstete erinnerte sich dunkel, diesen Namen schon einmal aus dem Munde seines Herrn gehört zu haben. Es bestand wohl keine Gefahr. Und den Gast einfach an der Tür abzuweisen, würde möglichem Gerede noch eher Vorschub leisten. Es war seine Aufgabe, das zu verhindern.
»Bitte, treten Sie doch ein, Mr Baker. Ich werde Sie gleich anmelden. Mr Havisham ist zwar seit einigen Tagen unpässlich, aber ich werde sehen, ob er Sie empfangen kann.«
»Danke, ...?«
»Pool, Sir.«
»Nun denn, Mr Pool«, der Gast lächelte höflich, obwohl sein Blick eine gewisse Anspannung verriet, »es tut mir leid, das zu hören, dennoch wäre es zu freundlich, wenn sich Mr Havisham trotz seiner Unpässlichkeit einen Augenblick Zeit für mich nehmen könnte. Mein Anliegen ist von einiger Wichtigkeit. Ich will ihn auch nicht zu lange aufhalten.«
»Sehr wohl, Sir!« Pool entfernte sich gemessenen Schrittes und stieg die Treppe zu den Privaträumen der Herrschaft hinauf. Pool war sich alles andere als sicher, ob es ihm gelingen würde, seinen Herrn zum Herunterkommen zu bewegen. Die Unpässlichkeit, von der er dem Gast erzählt hatte, war tatsächlich besonderer Natur. Seit der Herr des Hauses vor einigen Tagen in einer erschreckenden Gemütsverfassung aus der Stadt zurückgekehrt war, brütete er, eingeschlossen in sein Arbeitszimmer, vor sich hin und sprach mit niemandem manchmal hörte man ihn jedoch leise klagen und schluchzen. Selbst das Essen ließ er sich vor die Tür stellen, doch meistens rührte er es nicht
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