Stadt der Schuld
letzter Zeit, hat sich tagelang in sein Zimmer eingeschlossen und dann, nachdem dieser Mr Baker ihn besucht hatte – wie Sie ja wissen –, ist er auf einmal fortgegangen und die ganze Nacht nicht wiedergekommen. Am nächsten Tag hat er mir dann mitgeteilt, dass er für einige Zeit verreisen würde. Er wollte mir partout nicht sagen wohin und hat sich insgesamt sehr seltsam verhalten. Er hat sogar vorsorglich eine Droschke genommen, damit ich nichts über seinen Aufenthaltsort erfahre.«
Armindale knetete nachdenklich seine Unterlippe. »Es sollte mich doch wundern ...«, sagte er, eher zu sich selbst. Dann blickte er auf. »Mrs Havisham, ich werde mich um den Verbleib Ihres Mannes kümmern. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Verschwinden und seiner Beteiligung an dem Verbrechen. Wer weiß?«
»Und ich?«
»Sie sollten in der Zwischenzeit versuchen, etwas herauszufinden. Wie Sie wissen, suche ich nach der Verbindung Ihres Mannes zu einem Inder oder Halbinder, der in einer größeren Hafenstadt in England lebt. Eventuell können Sie etwas darüber in Erfahrung bringen!«
***
Meredith sah ihn nicht an. Ihre Augen waren noch immer vom Weinen gerötet. Horace, der ihr gegenübersaß, seufzte schwer und ließ den Blick aus dem Fenster der geschlossenen Kutsche schweifen.Nach der lästigen Themseüberquerung hatte er diese unter Mühen in dem Gewühl beim Endbahnhof in Nine Elms 32 ergattert und nun drängte sich das Gefährt mühsam durch die verstopften Straßen Londons. Hoffentlich würde Meredith ihm je verzeihen, dass er sie davon abgehalten hatte, den Brief sofort zu öffnen. Die Nachrichten waren verheerend gewesen. Joseph Baker hatte einen erneuten Schlaganfall erlitten. Es stand schlecht um ihn – sehr schlecht! Er lag im Sterben. Rupert hatte Meredith in dem Schreiben gebeten sofort zurückzukehren, damit sie sich noch verabschieden konnte. Meredith war buchstäblich hysterisch geworden, als sie den Brief im frühen Morgengrauen geöffnet und gelesen hatte. Vergeblich hatte er versucht, sie zu beruhigen. Sie hatte ihn zwar nicht beschuldigt, aber er meinte zu spüren, dass sie ihm vorwarf, die kostbaren Stunden der Nacht selbstsüchtig vergeudet zu haben. Und dann war auch noch der Morgenzug in Southampton wegen eines Maschinenschadens ausgefallen, als hätte sich alles gegen sie verschworen. Viel zu spät hatten sie London erreicht. Vielleicht war es aber auch nur sein eigenes schlechtes Gewissen, das ihn anklagte. Hatte er recht gehandelt? Ihre Anhänglichkeit zu ihrem Wohltäter und Ziehvater war offenbar noch weit größer, als er bisher angenommen hatte. Hoffentlich kamen sie noch rechtzeitig. Es schmerzte ihn, sie so verzweifelt zu sehen. »Meredith ...«, begann er zaghaft.
Sie machte eine fahrige Geste mit der Hand »Bitte nicht, Horace!« Ihre Stimme schwankte. Betroffen blickte er zu Boden. Was sollte er sagen? Es tat ihm unendlich leid. Ach, dass diese Tage des Glücks nun so enden mussten! Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und sah dann auf. »Meredith, du musst mich anhören. Es tut mir leid, wirklich! Niemand wünscht mehr als ich, dass es anders gekommen wäre. Wenn ich irgendetwas tun kann ...«
Plötzlich schluchzte sie auf, schlug die Hände vors Gesicht und brach erneut in Tränen aus. Im Nu war er neben ihr, umfing sie zärtlich und versuchte sie zu trösten. Ihr Schmerz schnitt ihm ins Herz. Hilflos weinend lehnte sie sich an seine Brust. »Ich hätte nicht gehen dürfen. Es war ein Fehler. Wenn ich nicht so selbstsüchtig gewesen wäre ...«
»Aber das bist du doch nicht, Liebste. Niemand weiß das besser als Joseph. Immer lag dir sein Wohl am Herzen. Und er liebt dich wie ein Vater, das weißt du doch.«
»Aber wenn ich dagewesen wäre, dann wäre das gewiss nicht geschehen.«
»Ich flehe dich an, Meredith, quäle dich doch nicht so. Du hättest es letztlich doch nicht verhindern können. Joseph ist schwer krank. Vielleicht hätte er noch einige Monate so weiterleben können, gepflegt und umsorgt von dir. Aber einmal wäre es doch so weit gewesen.« Er küsste sanft ihren Scheitel und streichelte sie.
Ihr Weinen ging in ein leiseres Schluchzen über. »Was soll nur aus mir werden, Horace? Nun bin ich ganz allein.«
»Nein, das bist du nicht, Meredith. Ich bin von nun an für dich da.«
Sie richtete sich auf und löste sich aus seinen Armen. »Nein, Horace! Das geht nicht. Denk daran, du hast es mir versprochen!
»Aber ...«
»Du hast es
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