Stadt der Schuld
ins Gesicht. »Ich werde darüber nachdenken, Bill, in Ordnung?« Er wandte sich zum Gehen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Pickett sich rasch bewegte. Abwehrend ließ er die Hand hochschnellen, gerade noch rechtzeitig, um die Attacke abzuwenden. Grob stieß er den Mann beiseite. Pickett stolperte und landete auf seinem ohnehin nicht eben sauberen Hosenboden im Dreck.
»Ich sagte, ich denke darüber nach, Picken! Verstanden?«
»Wenn du uns verpfeifst, bist du tot, Stanton!«, zischte dieser wütend, wischte sich die schlammverschmierten Hände an seiner Hose ab und schickte sich an, wieder aufzustehen. Da machte Aaron einen raschen Schritt auf ihn zu, bückte sich und packte ihn hart am Kragen seines speckigen Hemdes. Der Mann stank penetrant nach Bier und Fäulnis aus dem Mund. »Ich verpfeife niemanden, das dürfte dir eigentlich klar sein, Pickett! Oder soll ich es dir auf andere Weise verdeutlichen?«, sagte Aaron gefährlich leise und ballte die freie Hand drohend zur Faust. Hasserfüllt starrte der andere zurück, dann aber senkte er unvermittelt den Blick, als hätte er die harte Entschlossenheit in den Augen seines Gegners endlich wahrgenommen und richtig gedeutet. Bill versuchte, die Wogen zu glätten: »Wir verlassen uns auf dich, Stanton. Wenn du mitmachen willst, sag mir Bescheid, dann wirst du Näheres erfahren. Bis dahin hältst du einfach das Maul.« Aaron richtete sich auf. »In Ordnung! Aber ich muss euch sagen: Das ist verrückt. Ihr werdet alle am Galgen landen.«
Die Männer schwiegen störrisch, obwohl einige sich auch unsicher umsahen. Aaron zuckte mit den Achseln. »Ihr müsst wissen, was ihr tut«, sagte er und ging ohne Hast davon.
***
Cathy und die Kinder schliefen schon, als Aaron die Wohnung betrat. Die Glut in dem kleinen Eisenofen erleuchtete den viel zu kleinen Wohnraum spärlich. Es roch nach gewaschenen Windeln und Kleidungsstücken und nach der Suppe, die Cathy ihm auf dem Ofen warmgestellt hatte. Aaron wusste, dass sie alles andere als glücklich darüber war, dass er seit einiger Zeit bei den Chartisten mitmachte, aber sie sagte nichts dazu. Vielleicht ahnte sie, dass er diese Versammlungen dringend brauchte, um die Hoffnung nicht ganz zu verlieren, um wenigstens noch die Illusion einer Veränderung zum Besseren haben zu können. Aaron lächelte bitter: Eine Illusion, genau das war es, weiter nichts! Bill und John hatten im Grunde nur zu recht! Mit Vorträgen, Reden und Tintenschmierereien auf irgendwelchen Pamphleten würde sich ja doch nichts bewegen lassen. Bis die Machthaber im fernen London das zur Kenntnis nehmen würden – wenn sie es überhaupt jemals taten –, waren sie vermutlich alle längst verhungert. Sein Blick wanderte hinüber zu Cathy. Sie schlief, in ihrem gesunden Arm lag das Baby, das mit raschen, kaum wahrnehmbaren Atemzügen und rosigen Wangen dicht bei ihr ruhte. Sein Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, dass er nicht in der Lage war, ihnen das gute Leben zu bieten, das sie verdienten gleichgültig, wie sehr er sich dafür abrackerte.
Zu müde, um noch zu essen, legte er seine Kleidung ab, schlüpfte rasch unter die Bettdecke und schmiegte sich an seine Frau. Cathy regte sich schlaftrunken, als seine kalten Glieder ihren warmen Leib berührten. »Da bist du ja, Aaron«, murmelte sie, halb zwischen Schlaf und Wachen gefangen.
»Ja, da bin ich, mein Herz!«, flüsterte Aaron, legte den Arm um sie und das Kind und küsste sie sanft auf die Stirn.
»Das ist gut! Ich habe mich ein wenig gesorgt.«
»Das musst du nicht, Cathy.«
Sie schlug die Augen auf. »Wirklich nicht, Aaron?«, fragte sie zweifelnd. Er wusste genau, was sie damit meinte. Und in diesem Augenblick stand sein Entschluss endgültig fest. Auf keinen Fall würde er bei dem Wahnsinn der anderen mitmachen. Das konnte er Cathy einfach nicht antun – weder ihr noch dem Kind, und auch nicht McGillans armen Bälgern, die wahrlich schon genug hatten erdulden müssen. Er würde eben weiter für Ashworth schuften in der Gluthölle der Dampföfen – und wenn es sein musste, bis zum bitteren Ende.
Sein Blick streifte das Lager, das sich McGillans Kinder aus Strohsäcken, Wolldecken und alten Lumpen gemacht hatten. Er sah nur zwei schlafende Leiber. Einer fehlte.
»Wo ist Mary?«, fragte er alarmiert.
»Ich weiß es nicht«, gab Cathy unumwunden zu. »Sie sagt es mir nicht. Dabei habe ich immer wieder versucht, sie danach zu fragen. Sie kommt schon seit einigen Tagen immer später
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