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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Ruth Landys
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hatte zweifellos recht. Sollten sie im Zuge einer gewaltsamen Protestaktion verhaftet werden – und diese Gefahr bestand allerdings –, dann drohte ihnen Deportation oder eine schwere Gefängnisstrafe.Zu viele waren schon hinter den dicken Mauern des New Bailey Prison 33 verschwunden und nicht mehr herausgekommen. Obwohl die massive Verhaftungswelle, die nach den Unruhen im letzten Jahr über die Chartisten hereingebrochen war, inzwischen ein wenig abflaute, war immer noch Vorsicht geboten. Selbst friedliche Versammlungen konnten eine sofortige Polizeiaktion nach sich ziehen.Die Behörden waren auf der Hut. Davon hatten sie sich spätestens bei der letzten Versammlung überzeugen können. Plötzlich war eine Polizeidivision 34 aufgetaucht, hatte die Schlagstöcke gezückt und war gegen ihren Redner,einen Chartisten aus Birmingham, der für den Northern Star 35 schrieb, vorgegangen. Der daraufhin entstehende Tumult hatte zu mehreren Verhaftungen geführt und John Pickett war seiner Festnahme nur dadurch entgangen, dass Aaron sich im letzten Augenblick von hinten auf den Polizisten, der Pickett in der tobenden Menge ausgemacht hatte, geworfen und den Mann zu Boden gerissen hatte.
    Doch Bill wischte Aarons Einwand mit einer rüden Handbewegung zur Seite. »Mach dir doch nichts vor, Stanton.Wir verrecken sowieso und unsere Frauen und Kinder auch. Mit Stillhalten und schönen Worten, wie sich Lovett 36 das vorstellt, ist es nicht getan. Das haben die feinen Herren in London uns ja gezeigt. Die schert es einen Dreck, ob wir verhungern, obwohl wir uns kaputtschuften. Und nicht nur wir, auch unsere Kinder. Ist es nicht so, Dean?« Einer der Männer, ein breitschultriger, gedrungener Bär, sah schnell zu Boden. »Ist dein junge nicht vorgestern am Husten gestorben, Dean, nachdem er sich Woche für Woche unter den Spinnrahmen abgerackert hat?«, fuhr Bill ohne Gnade fort. »Und wozu? Nur damit diese Schweine von Fabrikbesitzern sich ihre Taschen vollstopfen können! Es ist genug, sage ich euch! Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen. Wir müssen die Unternehmer einfach zwingen, uns anzuhören.«
    »Und wie willst du das hinbekommen, Bill?«, fragte Aaron zynisch. »Wieder einen Streik anberaumen? Dass ich nicht lache! Das hat doch schon das vorige Mal nicht hingehauen, dieser angekündigte Generalstreik letztes Jahr, pah! Ein Haufen heißer Luft, weiter nichts!«
    »Wer spricht denn von Streik, Stanton?«, meinte John gefährlich grinsend. »Eine schnelle, gezielte Aktion, das ist es, was wir brauchen.«
    »Was soll das heißen?«, fragte Aaron alarmiert. Ihm schwante Übles. Pickett war so ziemlich alles zuzutrauen. Der Mann war geradezu fanatisch. Er war einst Textilarbeiter in den ebenfalls großen Industrien Wakefields gewesen.Doch als er seine gesamte Familie bei der verheerenden Cholerawelle 37 verlor, die über Yorkshire hinweggefegt war, hatte er alle Zelte hinter sich abgebrochen. Auf der Suche nach einem neuen Anfang war er in den Mittelwesten heruntergekommen. Aber er hatte nie wieder wirklich Fuß fassen können. Zu groß war sein Hass auf die Unternehmer, denen er die Schuld an der damaligen Katastrophe gab. Aaron wurde das Gefühl nicht los, dass die erhebliche Gewaltbereitschaft des Mannes, die er bei den Chartisten an den Tag legte, in Wirklichkeit nur ein willkommenes Ventil für seine unverarbeitete Trauer war.
    »Wir schnappen uns ein paar von diesen Schweinen und machen Druck! Dann stellen wir unsere Forderungen, und wenn sie nicht hören wollen, dann ...« Pickett fuhr sich mit dem Daumen rasch über die Kehle.
    Aaron starrte ihn entsetzt an. »Du bist ja völlig verrückt, John. Das wäre Erpressung und Mord. Damit kommen wir nie durch.«
    Bill mischte sich ein: »Ach was, wer spricht denn von Erpressung? Und zu einem Mord wird es sicher nicht kommen, dafür sorge ich schon. Nein, wir werden zur Industrie- und Handelskammer ziehen, wenn wieder ein paar der wichtigen Unternehmer dort tagen – dein Mr Ashworth wird sicher auch darunter sein –, dann dringen wir ein, stellen unsere Forderungen und lassen sie nicht hinaus, bis sie mit uns verhandelt haben. Das ist alles! Wir wollen nur, dass sie uns zuhören. Unsere Forderungen sind auch nicht übertrieben. Mehr Lohn, kostenlose Fabrikspeisung, Arbeitszeitregelungen, Bildungsmöglichkeiten für unsere Kinder und bessere Wohnungen. Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt!«
    »Ich weiß nicht ...«, sagte Aaron zögernd. Dann sah er Bill fest

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