Stadt der Schuld
nach Hause und sie bringt Dinge mit.« Sie seufzte. »Nicht einmal William oder Debby hat sie etwas gesagt. Ich bin mir sicher, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Ja, ich mache mir wirklich Sorgen um sie, aber ich kann sie letztlich nicht halten, wenn sie nicht will. Sie ist ja schon fast eine junge Frau.«
Aaron stützte sich auf dem Ellbogen auf und sah Cathy beunruhigt an. »Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt? Was für Dinge?«
»Wie hätte ich es dir sagen können, Aaron? Auch du bist in letzter Zeit sehr wenig zu Hause«, gab Cathy zurück. Der leise Vorwurf war nicht zu überhören. Aaron konnte es ihr nicht verdenken. Seit er zu den Chartisten gehörte, wurde seine ohnehin spärliche freie Zeit weitgehend von deren Aktivitäten aufgefressen. Kaum dass er noch zum Schlafen und Essen heimkehrte. Da fuhr Cathy fort. »Vor zwei Tagen war es ein Stück Fleischpastete, stell dir vor! Woher kann sie die nur haben? Und heute fand ich beim Aufräumen mit Debby einen Haarkamm – und den hat ihr bestimmt keine Arbeiterin gegeben. Das Geld, ihn sich zu kaufen, hat sie sicher auch nicht. Dazu war er viel zu wertvoll.« Ängstlich sah sie ihn an. »Glaubst du, sie stiehlt? Hoffentlich nicht! Sie hat ja keine Ahnung, was sie erwartet, wenn man sie dabei erwischt. Und wo, um alles in der Welt, hat sie die Sachen her?«
Aaron überlegte einen Augenblick, dann plötzlich verdüsterte sich seine Miene. Es war ihm ein Gedanke gekommen, der ihm ganz und gar nicht gefiel.
Cathy wurde immer ängstlicher. »Was ist? Sag doch, Aaron, was denkst du?«
Aaron legte sich auf den Rücken und starrte die rauchgeschwärzte Decke an. »Ich denke nicht, dass sie die Sachen gestohlen hat«, meinte er lapidar.
»Ja, aber wo soll sie das Zeug dann herbekommen?«
»Vermutlich ist es ein Hurenlohn, den Ashworth oder ein anderer ihr bezahlt.«
»Was?« Cathy war nun ehrlich empört. »Wie kannst du so etwas sagen?«
Er wandte sich ihr wieder zu. Seine harten Worte taten ihm augenblicklich leid. »Ach, verzeih mir, Cathy! Ich weiß es ja auch nicht. Es ist nur so ein Gedanke.«
»Dann solltest du vorsichtiger sein mit dem, was du über Mary sagst!«, gab Cathy etwas verärgert zurück, meinte dann aber einlenkend: »Es stimmt ja, sie ist bockig und es passt ihr offenbar nicht, dass sie hier bei uns leben muss, vielmehr, dass ihre Geschwister bei uns bleiben wollen. Ich bemerke das wohl. Aber glaubst du wirklich, dass sie mit Ashworth?« Ihre Stimme klang nun doch etwas unsicher.
»William hat mir berichtet, dass der sie mehrfach in sein Büro beordert hat. Was könnte Ashworth sonst von ihr wollen? Du weißt, dass so manche der Frauen in der Spinnerei nicht nur für ihn arbeiten.« Aaron sah Cathy bedeutsam an, die betroffen den Blick abwandte. Selbstverständlich wusste sie davon. Das war mehr oder weniger ein offenes Geheimnis unter den Frauen, und offenbar nicht nur unter ihnen. »Als ich sie darauf ansprach, wurde sie richtig störrisch mir gegenüber«, spann Aaron seinen Verdacht weiter, »sie meinte, das ginge mich gar nichts an. Und dann diese Blicke, mit der die Männer in der Spinnerei sie ansehen ...« Er schwieg. Seine Lider flatterten, eine Erinnerung kroch zäh und schwarz in seine Gedanken ... das Keuchen eines Mannes in seinem Nacken, Heu in der dämmrigen Nische einer Scheune, grobe Hände, die an seiner Kleidung zerrten ... Angewidert verzog er das Gesicht und schloss die Augen. Da holten ihn die leisen Geräusche, die das Kind im Schlaf von sich gab, wieder zurück in die Gegenwart. Die Erinnerung verblasste so schnell, wie sie gekommen war und er atmete tief durch. »Nun, jedenfalls werde ich in nächster Zeit ein Auge auf sie haben«, meinte er und bemühte sich, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Lass uns jetzt schlafen, Cathy. Ich bin schrecklich müde.«
»Gut!« Sie drückte ihm einen raschen Kuss auf die Lippen und kuschelte sich vertrauensvoll an ihn, sorgsam auf das Kind achtend, das sich nun ein wenig regte. »Ich brauche auch noch etwas Schlaf, bis Klein-Mary wieder ihre Milch fordert. Und ... danke, Aaron. Ich bin froh, dass du dich um. Mary kümmern willst. Sie wird es letztlich zu schätzen wissen.«
Aaron nickte stumm. Um nichts in der Welt hätte er Cathy verraten, wieso dieser Verdacht plötzlich über ihn gekommen war, doch er selbst konnte sich nicht belügen. Er hatte den fremden Ausdruck in Marys Augen längst erkannt und richtig gedeutet. Mary war kein
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