Stadt der Schuld
hatte die seltsame Regung von Ashworths Eheweib nur zu bedeuten?
»Der Mann hat recht, wir sollten ihn nicht weiter von seiner dringenden Aufgabe abhalten, Mr Cobden«, sagte Ashworth ein wenig zu schnell. »Ich denke, ich sollte Ihnen allen noch unsere Arbeiterküche zeigen. Hier können sich die Beschäftigten meines Unternehmens für wenig Geld eine nahrhafte Mahlzeit schmecken lassen.« Beifälliges Gemurmel zeigte an, dass man bereit war, sich diesem neuen Thema umgehend zuzuwenden. Aaron machte, dass er wegkam, kaum dass sich die Aufmerksamkeit von seiner Person abgewendet hatte. Da hielt ihn der Ruf von Mrs Ashworth zurück. Auf der Treppe hinunter zum Maschinenraum erreichte sie ihn. »Noch auf ein Wort, Mr Stanton. So war doch Ihr Name, nicht wahr?«, sagte sie verbindlich lächelnd, doch Aaron sah nach wie vor deutlich die flackernde Wut in ihren Augen. »Ich werde Sie auch gewiss nicht lange aufhalten.«
Ihr Atem ging schnell und das kam bestimmt nicht nur davon, dass sie ihm hinterhergeeilt war. Hektisch fächelte sie sich mit ihrer in einem feinen Spitzenhandschuh steckenden Hand Luft zu. »Um Himmels willen!«, stöhnte sie. »Das sind ja schreckliche Dämpfe, die hier heraufsteigen. Man hat geradezu Mühe, Atem zu schöpfen. Ist die Luft dort unten auch so schlecht?«
»Schlechter, Ma'am«, sagte Aaron, ohne eine Miene zu verziehen.
Plötzlich blickte sie ihm direkt in die Augen. »Mr Stanton, warum hat mein Mann Ihnen diesen Posten als Transportmeister nicht gegeben? Ich nehme an, Sie können lesen und schreiben, sonst hätten Sie das doch gar nicht erwogen, nicht wahr«
Kurz überlegte er, ob er auf diese gefährliche Frage antworten sollte, doch dann obsiegte seine Neugier. »Wenn ich das nur wüsste! Es lag bestimmt nicht daran, dass ich nicht ausreichend qualifiziert bin. Meine Frau hat in ihrer Jugend eine gute Bildung genossen und mir das Notwendige beigebracht. Und mit Pferden und Wagen kenne ich mich nun wirklich aus. Eigentlich war es fest ausgemacht, dass ich den Posten von Mr Wheaton übernehme, der hatte sogar schon mit Ihrem Gatten gesprochen. Aber dann war ich Mr Ashworth auf einmal nicht mehr gut genug. Weiß der Teufel warum!« Es fiel ihm plötzlich schwer, der Frau weiter in die Augen zu sehen. Der Hass, den er an jenem verfluchten Abend verspürt und der ihm die breite Narbe am Oberbauch eingebracht hatte, loderte erneut in ihm auf. Wütend starrte er stattdessen die Ziegelmauer an. Da trat Ashworths Weib dicht auf ihn zu und fasste ihn am Arm. »Hat er nichts gesagt, keinen Grund genannt?«
Aaron zuckte mit den Schultern. »Erst dachte ich, es sei vielleicht wegen des Unfalls meiner Frau und weil Ihre Freundin sich so für sie eingesetzt hat. Ich glaube, das war ihm nicht recht ...«
»Ach was! Inzwischen profitiert er sogar davon und das nicht schlecht. Die positive Reputation und die Presse, die ihm das einbringt, sind Gold wert. Immerhin ist er der erste Unternehmer in der Stadt, der sich bei Unfällen in der Fabrik um die medizinische Versorgung der Arbeiter kümmert – wenn auch nicht ganz freiwillig, wie wir beide wissen.« Es war wirklich seltsam, dass Mrs Ashworth so offen mit ihm sprach Was war nur in sie gefahren? Zögernd sagte er: »Ich weiß es wirklich nicht. Er hat behauptet, ich sei nicht loyal und neige dazu, ihn anzuzweifeln. Aber das stimmt nicht! Zumindest stimmte es damals nicht«, fügte er wahrheitsgemäß hinzu. »Ich vermute stark, jemand hat mich ungerechtfertigt bei ihm angeschwärzt. Einer der Arbeiter ...«
»Nein, hören Sie, Mr Stanton, Aaron ... ich darf Sie doch so nennen? Ich glaube, das hatte in Wirklichkeit gar nichts mit Ihnen zu tun. Ich habe ...« Plötzlich war etwas am Treppen aufgang zu hören. Dann Mr Ashworths ärgerliche Stimme: »Deodra! Zum Teufel, wo steckt das Weib denn nur?«
Hastig reckte sie sich und flüsterte in sein Ohr: »Ich kann jetzt nichts weiter sagen. Wenn Sie wissen wollen, Aaron, was hinter all dem steckt, dann treffen wir uns heute Abend. Sagen wir gegen acht Uhr. Ich werde in meiner Kutsche am Ende der Straße auf Sie warten. Abgemacht?«
Noch bevor Aaron antworten konnte, war sie schon auf dem Weg die Treppe hinauf. Verdutzt starrte er ihr nach. Was wusste sie darüber? Konnte er sich tatsächlich heimlich mit der Frau seines Arbeitgebers treffen? Das Ganze kam ihm geradezu aberwitzig vor. Langsam stieg er die Treppe hinunter zu den Maschinen. Noch immer spürte er den Abdruck der Finger dieser Frau auf
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