Stadt der Schuld
nicht. Das Mädchen ist sehr störrisch. Sie spricht nicht viel mit uns und schon gar nicht darüber.«
»Werfen Sie sie raus!«, brach es plötzlich aus der Frau hervor. »Die kleine Hure soll verschwinden! Sofort!«
»Ma'am! Bei allem Respekt, aber das kann ich nicht machen. Was soll denn aus dem Mädchen werden, wenn ich sie in die Gosse stoße?«
Sie sah ihn gehässig an und zischte: »Das, was sie jetzt schon ist: eine erbärmliche, kleine Hure.«
Aaron schwieg betroffen. Irgendetwas in ihm rebellierte gegen die Worte der Frau, obwohl er ihren Hass auf Mary auch nachvollziehen konnte. Aber hatte Mary denn wirklich eine Wahl, wenn Ashworth mit gieriger Hand nach ihr griff? Plötzlich verspürte er ein unerklärlich starkes Bedürfnis, das Mädchen gegen die Angriffe der Frau in Schutz zu nehmen.
»Das werde ich nicht tun!«, sagte er fest. »Mag sein, dass das Kind, ob freiwillig oder nicht, sich Ihrem Gatten hingibt, Mrs Ashworth, aber ich werde sie deshalb nicht ins Unglück stürzen.«
Wütend starrte ihn die Frau eine Weile an. Doch dann lächelte sie plötzlich. Es war ein Lächeln, das anzeigte, dass sie gerade eine Entscheidung getroffen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.
»Nun gut, Mr Stanton«, sagte sie, scheinbar besänftigt. »Sie sind augenscheinlich ein außerordentlich verständnisvoller Mann – ja, geradezu offen für die ... nun, sagen wir ... Bedürfnisse der Geschlechter.«
Er sah sie befremdet an.
»Auch ich habe meine Bedürfnisse, Mr Stanton.«
Was sollte das jetzt werden? Sein ungutes Gefühl verstärkte sich zusehends.
»Sind Sie denn noch interessiert an dem Posten des Transportmeisters? Soweit ich weiß, ist die Stelle noch nicht neu besetzt.«
Er nickte zögernd, ahnte er doch schon, welchen Handel Mrs Ashworth ihm gleich vorschlagen würde! Oh, er kannte das Spiel nur zu gut, hatte es selbst ja lange genug gespielt! Und richtig, der Ausdruck in ihren Augen bekam plötzlich etwas Begehrliches und ihr Blick glitt langsam von seinem Gesicht zu seinem Oberkörper und von dort – wie magisch angezogen hinunter zu seinem Schritt. Ihr Atem ging eine Spur schneller.
»Ich könnte mich für Sie verwenden«, sagte sie, ohne den Blick von der Erhebung zwischen seinen Beinen abzuwenden. »Sicher wird es mir gelingen, ein gutes Wort für Sie einzulegen bei meinem Mann. Trotz allem weiß er, was er an mir hat. Er wird sich meinem Anliegen gewiss nicht verweigern.«
Aaron schwieg. Die Frau widerte ihn an. Unwillig wich er ihrem Blick aus, als sie ihm nun wieder ins Gesicht zu sehen versuchte. Doch sie schien wild entschlossen. »Wenn Sie sich dafür ein wenig entgegenkommend zeigten ... Sie sind ein sehr gut aussehender Mann, Mr Stanton – das wissen Sie doch bestimmt selbst.« Sie beugte sich weit zu ihm hinüber und ihre Lippen öffneten sich ein wenig. Oh, wie sehr er ihm vertraut war, dieser hungrige Blick in den Augen der Weiber – Weiber wie Isobel Havisham. Würgende Abscheu stieg in ihm auf und er wandte sich hastig ab. Und dennoch! Irgendetwas lockte ihn auch. Allein die Vorstellung, dass er es Ashworth heimzahlen konnte, indem er es mit seinem Weib trieb – hier und jetzt! Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, doch der Moment währte nur kurz. »Mrs Ashworth«, sagte er vorsichtig. Es war sicher klug, die Frau trotzdem nicht völlig vor den Kopf zu stoßen. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen und ich habe wirklich Interesse an der Stelle, aber sehen Sie ... ich bin ein verheirateter Mann.«
Sie fuhr zurück, als hätte er ihr einen Schlag versetzt. »Als ob das eine Rolle spielt!«, fauchte sie beleidigt.
Er verstand sie trotz allem. Sie war verletzt – zutiefst verletzt – von der Untreue ihres Mannes. Offenbar hatte sie ihn an diesem Nachmittag mit Mary überrascht. Auch schwand ihre Schönheit unwiederbringlich und Frauen von ihrem Schlage war das nicht gleichgültig, so weit kannte er die Sorte. Eitle Wesen waren sie, die in Reichtum und Müßiggang verwelkten und sich nach nichts mehr als etwas Abwechslung in ihrem Leben sehnten. Eine Mrs Ashworth suchte überdies nach Trost und Bestätigung in den Armen eines jüngeren Mannes, der sie das Alter vergessen machte. Und wenn es sich dabei auch nur um einen einfachen Arbeiter handelte – vermutlich war gerade das ihre ganz spezielle Rache.
»Ich sollte jetzt aussteigen, Ma'am. Wir vergessen diese Unterredung einfach. In Ordnung?«
Sie starrte unverwandt in die andere Richtung, doch dann schien sie
Weitere Kostenlose Bücher