Stadt der Schuld
wirklich krank sein. Ein solcher Satz wäre ihm noch vor Kurzem nie über die Lippen gegangen. »Dennoch, wenn ich noch irgendetwas für ihn tun kann, lass es mich bitte umgehend wissen.« Havisham erhob sich. »Ich nehme an, du wirst unverzüglich aufbrechen. Ich werde heute wieder in vollem Umfang meine Arbeit im Parlament aufnehmen. Das hatte ich Green zugesagt. Wenn du mich brauchst, dann schicke mir bitte eine Nachricht.«
»Wie du wünschst!«, sagte Isobel. Doch dann kam ihr ein verwegener Gedanke. »Wann wirst du aufbrechen?«
Havisham zuckte mit den Achseln und blickte kurz zu der kostspieligen Porzellanuhr auf dem Kaminsims hinüber. »Im Laufe der nächsten halben Stunde. Es stehen noch wichtige Besprechungen mit dem jungen Gladstone an.«
»Ich werde mich umziehen und dann ebenfalls das Haus verlassen. Kann ich den Brougham haben?«
»Sicher, sicher!«, murmelte Havisham, schon wieder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und schickte sich an den Raum zu verlassen, doch dann schien es ihm wichtig, noch etwas loszuwerden: »Es tut mir sehr leid um deinen Vater, Isobel. Das ist mein Ernst. Ich wünschte, ich könnte die Dinge, die vorgefallen sind, ungeschehen machen, aber dazu ist es jetzt wohl zu spät«, sagte er bedauernd. Dann verließ er leise das Zimmer.
Isobel stand ebenfalls auf. Sie würde warten, bis Havisham das Haus verlassen hatte und dann sein Arbeitszimmer nach Hinweisen durchsuchen. Bisher war das nicht möglich gewesen, da Havisham sich im Grunde ständig darin aufhielt. Selbst nachts hatte sie es nicht gewagt einzudringen, da er im angrenzenden Raum schlief. Zu groß war die Gefahr gewesen, von ihm überrascht zu werden. Aber nun war die Gelegenheit mehr als günstig.
Schnell eilte sie zurück in ihre eigenen Räume und lauschte angespannt.
Da! – Pools Stimme, der seinem Herrn einen angenehmen Tag wünschte, dann der vertraute Bariton ihres Gatten. Sie hörte, wie die große Tür hinter ihm geschlossen wurde. Jetzt war der günstigste Zeitpunkt. Rasch verließ sie ihr Zimmer, überquerte die Galerie oberhalb der Halle und huschte ungesehen in Havishams Räumlichkeiten. Gehetzt blickte sie sich um. Hoffentlich kam es der Dienerschaft nicht ausgerechnet jetzt in den Sinn, hier sauber machen zu wollen. Wonach nur sollte sie suchen? Ein Name, ein Schriftstück oder gar ein Brief, den man als Beweis verwenden könnte, wäre hilfreich, hatte Armindale gemeint. Das sagte sich so leicht! Die Regale waren voll mit ledergebundenen Akten, auf denen goldene _Jahreszahlen und einige unverständliche Kürzel eingeprägt waren. Isobel blies nervös die Backen auf. Armindale konnte doch nicht ernsthaft von ihr erwarten, dass sie die alle durchsah. Aber stand es zu vermuten, dass Havisham einen Beweis für seine Untaten derartig wohlgeordnet aufbewahrte? Wenn überhaupt, dann fand sich am ehesten etwas in seinem Schreibtisch.
Eilig ging sie zu dem schweren Möbel hinüber, an dem ihr Gatte sonst zu arbeiten pflegte, setzte sich und begann die Schubladen aufzureißen. Schreibfedern, einige weitere Bücher, in denen bei Durchsicht nur endlose, verwirrende Zahlenkolonnen geschrieben standen, mit denen sie herzlich wenig anzufangen wusste, dann Briefe und angefangene Schriftstücke. Beherzt nahm sie die Korrespondenz heraus und begann auch diese durchzusehen. Das meiste davon war an Mitglieder der Whigs gerichtet oder von diesen verschickt worden. Die Namen waren ihr zum größten Teil flüchtig bekannt und sie klangen definitiv nicht indisch. Parteikorrespondenz – zweifellos! Das meiste kam von Green. Ärgerlich stopfte sie die Papiere wieder zurück in die Schublade. Das nächste Schubfach war verschlossen. Verbissen rüttelte sie am Griff, doch der gab nicht einen Deut nach. Sie lehnte sich, hektisch auf ihrer Unterlippe kauend, in Havishams Schreibtischsessel zurück. Zu dumm! Sie brauchte den Schlüssel – und den hatte natürlich ihr Mann bei sich. Oft genug hatte sie beobachtet, wie er ihn in seine Westentasche gesteckt hatte. Offenbar war der Inhalt dieser Schublade weitaus interessanter als der gesamte Rest des Zimmers. Verflucht! Daran hätte sie auch eher denken können. Wie sollte sie nun an diesen Schlüssel kommen? Und dabei wusste sie doch nicht einmal, ob das verschlossene Fach die gesuchte Information enthielt, ja, ob diese überhaupt irgendwo existierte. Dieser Armindale machte es sich in der Tat einfach, indem er ihr den gefährlichen Teil der Arbeit überließ. Wütend
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