Stadt der Schuld
und sprang hinter ihm die Stufen hinauf. Ein kurzes, energisches Klopfen an der Eingangstür und eine kleine Klappe in Augenhöhe öffnete sich. Das Augenpaar einer Frau erschien darin. »Ah, Mr Ashworth! Kommen Sie doch herein!« Die Tür öffnete sich wie durch Zauberhand. Verschüchtert ging Mary hinter dem breiten Rücken ihres Begleiters in Deckung und huschte durch die Tür, erst dann wagte sie den Blick zu heben. Das Erste, was sie sah, waren schwere rote Samtvorhänge mit goldenen Borten, die zurückgerafft den Einblick in einen üppig ausgestatteten, hallenähnlichen Raum boten. In der Mitte des Raums, der auf zwei Stockwerken von Galerien mit vielen Türen umsäumt wurde, war gar ein plätschernder goldener Springbrunnen aufgestellt! Das Seltsamste aber war: Es hielten sich sehr viele Männer – sehr gut gekleidete Männer – dort auf. Männer wie Mr Ashworth. Sie saßen entspannt aufweichen Sofas, in abgedunkelten Nischen, oder nippten aus hochstieligen Gläsern an Getränken, während etliche, sehr leicht bekleidete Damen sie umgarnten. Mary blieb vor Staunen der Mund offen stehen. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
»Na, wen haben wir denn da?«, sagte plötzlich eine weibliche Stimme. Sie gehörte ohne Zweifel der Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte. Mary starrte sie an. Plötzlich wurde ihr nur zu klar, wohin sie geraten war: Die Frau war eindeutig eine Hure. Ihr Gesicht war stark geschminkt und sie trug eine verwegen weit ausgeschnittene Korsage, die die roten Höfe ihrer Brustwarzen mehr hervorhob als verbarg. Unter dem hochgeschürzten Rock konnte man deutlich ihre Knöchel und einen Teil ihrer Waden sehen! Das war letztlich das untrügliche Zeichen für die Profession dieser Frau.
»Das ist aber nicht der Sinn der Sache, Mr Ashworth, dass Sie Ihre Gespielinnen selbst mitbringen. Da bleibt ja gar nichts mehr für uns zu tun, nicht wahr? Oder vielleicht doch?«, meinte die Frau neckisch lachend, legte die Hände unter ihre Brüste und hob diese Henry Ashworth freigiebig entgegen. Mary wich zurück. Um Himmels willen, was sollte sie hier? Sie wollte nicht hierbleiben.
»Ach, lass das, Jasmine! Wo ist Mrs Friwell? Ich habe mit ihr zu sprechen«, raunzte Mr Ashworth die Frau ungnädig an. Deren lockende Miene veränderte sich von einem Wimpernschlag auf den nächsten zu gelangweilter Geschäftsmäßigkeit.
»Drinnen, Sir, hinter der Theke. Sie wissen schon.« Sie wandte sich ab und setzte sich wieder auf ihren Hocker bei der Tür. Offenbar hatte sie heute Pfortendienst zu verrichten und das gefiel ihr, wie selbst Mary – so erschrocken sie auch war erkennen konnte, augenscheinlich nicht. Doch Marys Begleiter, der sie mit eisernem Griff bei der Hand genommen hatte, war schon durch den Vorhang getreten und zerrte sie durch den hohen Raum, in dem sich die Gentlemen, wie sie jetzt klar erkannte, ihren Vergnügungen mit weiteren Weibern vom Schlage Jasmines hingaben. Manche davon hatten sogar noch weniger an als die Pförtnerin. Sie waren nahezu nackt. Ein faltiges, ebenfalls übertrieben geschminktes Weib überwachte das Geschehen mit lauerndem Blick von ihrem Platz hinter der Theke aus. Mary empfand spontane Furcht vor ihr. Diese Frau war gewiss weit schlimmer als Bole, der gefürchtete Vorarbeiter im Carding Room der Spinnerei, das sah sie auf den ersten Blick. Die Frau, oder besser Mrs Friwell – denn um diese handelte es sich zweifellos –, setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf, als sie ihres neuen Gastes ansichtig wurde. Offenbar war Henry Ashworth hier bestens eingeführt.
»Mr Ashworth, welche Freude! Womit kann ich Ihnen dienen?« Ihr Blick ruhte fragend auf Mary, aber sie wirkte nicht einen Moment irritiert, sondern wandte sich gleich wieder ihrem Gast zu. »Wie ich sehe, haben Sie sich ein kleines Mäuschen mitgebracht. Welches Arrangement beliebt Ihnen? Soll sie sich mit meinen Mädchen vor Ihnen vergnügen, oder aber Sie zusammen mit einer anderen, Erfahreneren, verwöhnen? Eve wäre gerade frei und auch Brenda, wenn Sie mehr haben wollen.«
Ashworth trat näher zu der Frau und senkte die Stimme: »Nein, hören Sie, Mrs Friwell, ich habe heute leider keine Zeit dafür. Ich bin hier, weil ich Sie um etwas bitten wollte.«
Mrs Friwell hob interessiert die Brauen und lehnte sich ebenfalls verschwörerisch über die Theke: »Ich höre!«, sagte sie.
»Nun«, Henry Ashworth senkte die Stimme jetzt so weit, dass Mary, obwohl sie die Ohren spitzte, Mühe hatte der Unterredung
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