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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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ihm. Jon schüttelte als Antwort nur den Kopf.
    »Manchmal sucht der ›Feind‹ mich«, sagte Nonik. »Ich gehe spazieren und bilde mir ein, ich wäre ihm entkommen, da höre ich plötzlich seine Stimme aus dem Nichts, die mir sagt, daß er mich braucht …« Ein bitteres Lachen drang aus seinem Mund. »Das klingt verrückt, nicht wahr? Aber ich spreche von etwas sehr Wirklichem.« Er drehte sich um und sagte laut: »Wie fühlst du dich an diesem schönen Tag, altes Kind metallener Insekten und Siliziumkristalle?«
    Eine dröhnende Stimme klang aus der Nacht. »Mir geht es gut, Vol Nonik. Aber es ist Nacht, nicht Tag. Ist das wichtig?«
    Nonik wandte sich wieder ihnen zu. »Ganz egal, wo ich bin, beobachtet die Maschine mich. Sie benutzt ein Induktionsfeld etwa einen Kilometer unterhalb, um das Metallgeländer in Schwingungen zu versetzen, damit es als Lautsprecher dienen kann.«
    »Und sie ruft Sie?« fragte Alter.
    »Die Maschine? Nein, Tausende, Abertausende Tote, in Millionen Transistoren gespeichert, poliert und zu einer einzigen Stimme geschliffen, rufen mich. Es ist nicht schwer, zu antworten. Aber manchmal …« Er blickte auf seine zu Fäusten verkrampften Hände. »Manchmal möchte ich weit weg sein, wo ich nicht reden muß.«
    »Und jemand anderer ruft Sie ebenfalls?« fragte Jon.
    Nonik blickte erstaunt hoch, dann lachte er. »Nein, wissen Sie, ich bin Clea und Rolth einen Schritt voraus, in einem Punkt jedenfalls. Primzahlen oder das vierfarbige Kartenprogramm oder der Gödelsche Satz spielen keine Rolle. Ja, wenn wir alles wissen, gibt es keinen Zufall mehr. Aber solange wir noch danach forschen, müssen wir ihn wohl doch in Betracht ziehen. Also ist die Idee des Zufalls ein philosophisches Werkzeug, wie Gott oder Übermensch, Tod Existenz oder Moralität. All das sind keine Objekte, sie sind die Namen, die wir willkürlich ganzen Sammelgebieten von Dingen geben – Werkzeuge, um unsere Wahrnehmungskraft zu schärfen, mit der wir die Wirklichkeit schlagen.«
    »Was ist mit Ihren Gedichten?« fragte Jon. »Clea und Rolth können nicht sagen, ob sie nun gut oder schlecht sind.«
    »Aber ich«, versicherte ihm Nonik. »Sie sind besser als jegliche, die ich je zuvor hätte schreiben können. Und das ist das – Allerschrecklichste, womit ich mich je beschäftigen mußte.« Er hatte die Augen gesenkt, aber nun hob er sie wieder. »Poesie oder überhaupt alles, was der Mensch schaffen kann, steht gegen den Tod. Haben Sie jemals ein Tier ganz langsam sterben sehen? Irgendwie, im Akt des Sterbens, wenn es sowohl erkennt, daß sein Tod unvermeidlich ist, es aber immer noch lebt, nimmt sein Todesschrei einen anderen Klang an, er steigt um Oktaven höher und wird schriller vor unvorstellbarer Kraft. So sind meine Gedichte jetzt. Wenn Rolth und Clea sie nicht verstehen können, liegt es daran, daß sie sehr wenig Musik in dieser Klanghöhe gehört haben …« Er hielt inne und lächelte. »Es könnte natürlich auch daran liegen, daß ich tatsächlich wahnsinnig bin. Ja, ich glaube, es wäre einfacher und angenehmer, dem Irrsinn verfallen zu sein, dann brauchte man nur um Hilfe zu rufen, wie mein Freund hier …« Er deutete auf die Stadt. »Und man müßte nicht antworten. Andererseits, zu denken, daß der Wahnsinn angenehmer ist, ist allein schon Wahnsinn.« Er schüttelte den Kopf. »Sie wissen nichts über meine Frau, nicht wahr? Ich meine, abgesehen davon, daß man sie umbrachte.«
    Sie schüttelten den Kopf.
    »Sie war eine Künstlerin«, sagte Vol. »Sie zeichnete und malte, und wir suchten gemeinsam nach Tonablagerungen auf der Carsininsel. Wir fanden roten Ton, und sie formte Figuren daraus, die bleichten, während sie trockneten und hart wurden – und sie waren wunderschön. Es gab viele, die ihre Bilder für besser als meine Gedichte hielten, und wiederum solche, die meine Gedichte besser als ihre Bilder fanden. Wir lachten darüber und benutzten die Klinge der Eifersucht, die sich uns durch Lob und Kritik unwillkürlich in die Hand legte, um unsere Liebe zueinander wie einen verklemmten Verschluß noch weiter zu öffnen. Sie lehrte Kinder in einer Schule, ich hatte meine eigene Dissigang. Wir verliebten uns ineinander. Ich kam in ihr Klassenzimmer und las ihren Schülern meine Gedichte vor. Und sie floh mit mir des Nachts vor den Polizeisirenen. Wir erkannten bald, daß sie unter den zerbröckelnden Lügen und der unbewußten Heuchelei zur Destruktivität in der Schule gezwungen war – ein

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