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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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Gefängnis, das alle Gedanken ausschließen sollte, die die Psyche der Kinder verletzen könnten –, weshalb sie schließlich ihre Stellung verlor. Es war genau derselbe Zwang, den ich auf den Straßen empfand, wo ich allein durch den Aufruhr, den ich an den richtigen Stellen verursachte, so konstruktiv in meiner Gewalttätigkeit war, wie sie ›kreativ‹ in der Schule sein durfte. Wir beide sahen einander ganz klar, zumindest, was unsere Kunst betraf. Unsere Eltern weigerten sich, unsere Talente auch nur sich selbst einzugestehen, und so mußten wir uns unseren eigenen Wert durch Worte und Pinselstriche beweisen. Unsere Eltern hätten es natürlich gern gesehen, daß wir heirateten und ein bürgerliches Leben führten – aber keinesfalls miteinander. Das Museum von Toron hatte eine Mappe mit ihren Skizzen gekauft – sieben davon mußten ihrer Obszönität wegen ausgeschlossen werden. Und ich erhielt ein Stipendium für meinen ersten Gedichtband – vorausgesetzt, ich würde fünf Gedichte herausnehmen, die ›bestimmte bedauerliche Aspekte der Gesellschaft übertrieben und auf Nachlässigkeit der Regierung schließen ließen‹. Wir hörten von einer Stadt, die auf dem Festland erbaut wurde, dorthin beschlossen wir zu gehen. Wir mußten vor Mittag Toron verlassen haben, denn ein Freund – er war Beamter in einer Regierungsstelle – konnte einen Haftbefehl, der mir Zwangsarbeit in den Minen eingebracht hätte, nicht länger zurückhalten.
    Nur war sie mittags schon … Und ich war – ja, da war ich wahnsinnig. Aber ich fand wieder zu mir, mit Stimmen in mir, die seit Jahrhunderten stumm gewesen waren. Ich wußte, wie seicht alles gewesen war, das ich bisher geschrieben hatte. Ich wußte, daß das, was ich zuvor geschaffen hatte, gar keine Poesie gewesen war, weil ich nicht genug gewußt hatte, um Poesie zu kreieren. Und ich sah auch, daß ihre Bilder so seicht wie meine Verse waren.«
    Alter runzelte die Stirn. Jon legte einen Arm um ihre Schulter.
    »Ein Poet wird durch Wunden zur Sprache gedrängt, und er untersucht diese Wunden peinvoll genau, um herauszufinden, wie sie geheilt werden können. Der schlechte Dichter läßt sich über die Schmerzen aus und zuckt vor den Waffen zurück, die sie ihm zufügen. Der große Poet untersucht mit frostbedeckten Fingern die entzündeten Ränder der tiefen Wunden, und sein Gedicht ist die widerhallende Doppelstimme, die über die Verletzung berichtet. Keiner von uns beiden war bisher tief genug verwundet worden, jedenfalls hatten wir keine Verletzung davongetragen, die so grauenvoll wie die Vernichtung des anderen gewesen wäre. Ihre Skulpturen und Gemälde und Skizzen waren so unbedeutend wie mein bisheriges metrisches Gestammel. Nur wenn es mich statt sie getroffen hätte, hätten ihre Werke all das ausdrücken können, was meine jetzt tun.« Er holte mit einem unterdrückten Schluchzen Luft. »Deshalb hoffe ich, daß ich wahnsinnig bin. Deshalb hoffe ich, daß das, was ich jetzt tue, das Geschwafel eines verwirrten Geistes ist. Ich sage, ich bin der Ansicht, meine Gedichte seien jetzt besser als alles frühere; und ich hoffe, daß es die Meinung eines kranken Gehirns ist, dessen kritische Fähigkeiten vom Schock der Trauer gelähmt sind. Denn wenn meine Verse tatsächlich groß sind …« Seine Augen starrten blicklos über die Häuser hinweg. »… kosteten sie zuviel. Sich von der Vernichtung zu nähren, zur Größe anzuschwellen – das ist es nicht wert!« Die letzten Worte kamen als Zischen.
    Etwas brach in Jon. Er spürte, daß auch Alter es fühlte, als ihre Finger sich in seinen Arm krallten. Er ließ die Arme schlaff hängen, so sehr verwirrte ihn, was immer es auch war, das in seinem Gehirn aufwallte wie eine Erinnerung, die durch aufgewühlten Schaum an die Oberfläche taucht. Er machte einen Schritt rückwärts und wußte nicht, ob er es verdrängen oder akzeptieren sollte. Er drehte sich um und rannte die Straße abwärts. Etwas formte sich bereits in den kühlen Kammern seines Gehirns und stieß wie der Strahl einer Energieklinge aus der Finsternis.
    Alter schrie ihm nach, dann wandte sie sich an Vol. »Nonik, bitte …« Sie folgten ihm.
    Als er in den Kontrollraum stürzte, blickten Clea und Rolth erstaunt auf. »Ich – ich …«, stammelte er.
    Alter und Nonik kamen Sekunden nach ihm. »Was ist mit dir, Jon?« rief Alter besorgt. Er wirbelte herum, faßte sie an den Schultern und drehte sie langsam um sich. Nonik wich ihnen mit Clea und Rolth

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