Stadt des Schweigens
Hunter den Arm entreißen, doch er hielt sie umso fester. „Dein Dad hat dich gebraucht, doch du warst nicht da.“
„Was weißt du schon davon, wie mein Dad fühlte oder was er brauchte?“
„Mehr, als du denkst.“ Er ließ sie los, und sie taumelte zurück. „Ich wette, du weißt nicht einmal, dass dein Dad und meiner nicht mehr miteinander gesprochen haben. Es war so schlimm geworden, dass sie, wenn sie den anderen kommen sahen, auf die andere Straßenseite wechselten, um den Blickkontakt zu vermeiden. Jede Wette, das haben dir weder Matt noch Buddy erzählt.“
„Hör auf, Hunter!“ Sie wich zur Tür zurück.
„Und ich wette, sie haben dir auch nicht gesagt, dass meine Eltern schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr dasselbe Schlafzimmer teilen und Mom von Schmerztabletten und Alkohol abhängig ist.“ Er lachte bitter. „Dad spielt schon so lange den jovialen Kleinstadtpolizisten, dass er eine aufrichtige Geste nicht mal mehr erkennen würde, wenn sie ihn anspringt. Matt gibt sich die allergrößte Mühe, in die Fußstapfen seines alten Herrn zu treten, und weigert sich so total, die Realität zu erkennen, dass es nur noch erschreckend ist. Und Cherry, das arme Mädchen, opfert ihr Leben diesem zerbrochenen Haufen, um ihn zusammenzuhalten. Großartige Familie“, fügte er hinzu, „so amerikanisch wie Apfelkuchen und Prozac.“
Zornbebend starrte sie ihn an. „Du hast Recht, ich war nicht hier, und ich mache mir die größten Vorwürfe deshalb. Ich würde alles geben, wenn ich es rückgängig machen könnte, aber das geht nun mal nicht. Ich habe meine Eltern verloren.“
Sie griff nach dem Türknauf und kämpfte mit den Tränen. Er sollte nicht merken, dass seine Argumente gesessen hatten. „Ich habe Cherrys Vorwurf, du wärst nur zurückgekommen, um ihnen wehzutun, nicht glauben wollen. Aber jetzt tu ich es.“
Er streckte eine Hand aus. „Avery, ich …“
„Wann bist du so grausam geworden, Hunter?“ schnitt sie ihm das Wort ab. „Was ist passiert, dass du so geworden bist, erbärmlich und voller Hass?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sie die Tür und ging.
10. KAPITEL
Gwen Lancaster stand am Fenster ihres gemieteten Zimmers und spähte durch die Jalousien in die hereinbrechende Dunkelheit. In den Gebäuden rings um den Stadtplatz wurden nacheinander die Lichter eingeschaltet. Gwen blieb im Dunkeln, um aus der Anonymität zu beobachten.
Wussten die, dass sie hier war und dass sie Toms Schwester war? Hatten die bereits bemerkt, dass sie sich nicht aufhalten lassen würde, um seinen Killer zu finden?
Wie immer war sie den Tränen nahe, wenn sie an ihren Bruder dachte. Gwen wandte sich vom Fenster ab, ging zum Schreibtisch und blickte auf die Gazette. Sie hatte die Zeitung gelesen und den Kalender mit den bevorstehenden Terminen aufgeschlagen. Sie hatte sich angekreuzt, an welchen sie teilnehmen wollte. Der erste war die Totenwache heute Abend.
Sie blickte auf das Schwarz-Weiß-Foto eines freundlichen älteren Herrn, laut Überschrift Dr. Philip Chauvin, der als einziges Familienmitglied seine Tochter Avery Chauvin hinterließ.
Heute Abend würde fast die ganze Stadt zusammenkommen. Sie hatte die Leute darüber reden hören. Der Mann hatte offenbar Selbstmord begangen und war einer der beliebtesten Bürger hier gewesen.
Selbstmord. Verächtlich verzog sie die Lippen. Cypress Springs war anscheinend ein Nest von Selbstmördern.
Wütend dachte sie, dass die wahrscheinlich auch dort waren, diese Bastarde, die ihr den Bruder genommen hatten, die für sein Verschwinden gesorgt hatten.
Tom hatte an seiner Doktorarbeit in Sozialpsychologie für die Tulane Universität gearbeitet. Thema seiner Dissertation war Selbstjustiz in amerikanischen Kleinstädten gewesen. Im Zuge seiner Recherchen hatte ihn eine merkwürdige Geschichte nach Cypress Springs geführt.
Es ging um eine Gruppe, die sich Die Sieben nannte. Sie war offenbar in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern aktiv gewesen und hatte ihren Mitbürgern im Namen von Recht und Gesetz die Bürgerrechte verweigert.
Nachdem er nur wenige Wochen in Cypress Springs verbracht hatte, war Tom spurlos verschwunden.
Gwen schluckte trocken. Das stimmte nicht ganz. Seine Leiche war verschwunden. Sein verlassenes Auto war an einem einsamen Highwayabschnitt in der nächsten Gemeinde gefunden worden. Es hatte keine Spuren eines Kampfes oder eines Unfalls gegeben. Die Schlüssel waren fort gewesen.
Sowohl die Polizei von Cypress
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