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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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ist viel schlimmer geworden, seit Hunter wieder nach Cypress Springs gekommen ist. Vorher konnten wir ihn einfach vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das funktionierte sogar bei Mom. Ich glaube, sie hat sich mit seinem beruflichen Erfolg getröstet.“
    Aus den Augen, aus dem Sinn. Avery verstand das nur zu gut. In gewisser Weise war sie genauso mit ihrem Vater verfahren. Sie hatte sich eingeredet, es gehe ihm gut und er habe ein angenehmes, schönes Leben. Nun musste sie mit der Erkenntnis leben, wie sehr sie sich geirrt hatte.
    „Dann kam er nach Hause“, fuhr Cherry fort, „und schleppte einen solchen Ballast an Zorn und Überempfindlichkeiten mit sich herum, dass er kaum noch aufrecht gehen konnte.“
    „Aber warum das alles, Cherry? Dein Vater erwähnte, Hunter hätte fast seine Anwaltslizenz verloren. Weißt du, was da passiert ist?“
    „Ja, allerdings. Er hatte alles erreicht und hat sein Leben verpfuscht. Das ist passiert. Er hatte beruflichen Erfolg, Geld, einen klugen Kopf und eine Familie, die ihn liebte, und das alles hat er aufs Spiel gesetzt. Weißt du, was er jetzt macht? Er war Anwalt für Firmenrecht in einer der renommiertesten Kanzleien im Süden und ist nach Cypress Springs gewechselt, um gelegentlich eine Scheidung durchzuziehen oder einen Fall von Bankrott zu übernehmen. Ich begreife das einfach nicht. Er lebt und arbeitet im früheren Blumenladen von Barkers, einen Block vom Stadtplatz entfernt, an der Ecke Walton und Johnson. Erinnerst du dich?“
    Avery bejahte.
    „Ich glaube, er ist nur zurückgekommen, um uns wehzutun. Um uns für irgendeine Sünde oder eingebildete Zurückweisung zu bestrafen.“ Cherry blickte zur Treppe und dachte offenbar an ihre Mutter. „Und was das Traurige ist, er hat Erfolg damit.“

9. KAPITEL
    Kurz darauf verließ Avery das Haus. Cherry sagte ihr, sie könne mit Lilahs Wagen zurückfahren. Nach einem solchen Vorfall würde ihre Mutter das Haus meist tagelang nicht verlassen.
    Während sie durch die Stadt fuhr, musste Avery immer wieder an Cherrys Bemerkung denken, Hunter sei nur gekommen, um ihnen wehzutun. Sie hatte das nicht glauben wollen, doch wenn sie an Lilahs Verzweiflung dachte, wurde sie unsicher.
    Je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie auf Hunter. Was fiel ihm ein, derart auf seine Familie loszugehen, die ihn stets nur geliebt und unterstützt hatte?
    Auch wenn sie zwölf Jahre fort gewesen war, würde sie ihm das nicht durchgehen lassen. Die Stevens’ standen ihr fast so nah wie die eigene Familie, und Hunter durfte nicht so mit ihnen umspringen.
    Sie erreichte die Walton Street, bog links ab und fuhr zurück zur Johnson. Nicht weit von Barkers Blumenladen entfernt fand sie eine Parkbucht, fuhr hinein und stieg aus.
    Während ihrer Schulzeit war Barker der führende Florist der Stadt gewesen. Jeder Ansteckstrauß, den sie getragen hatte, war von Barker gewesen.
    Und von Matt überreicht worden.
    Sie stand vor dem Laden und bedauerte, durch die Schaufenster nicht mehr auf Eimer voller Schnittblumen schauen zu können.
    Avery wollte die Tür öffnen, doch sie war abgeschlossen. Eine Pappuhr im Fenster verkündete: „Komme um … zurück.“ Leider fehlte der Zeiger für die Zeitangabe.
    Cherry hatte erzählt, Hunter benutze den Laden vorne als Kanzlei und lebe in den hinteren Räumen. Wenn sie sich recht entsann, hatten die Barkers das seinerzeit genauso gehalten. Zweifellos lag der Zugang zu den Wohnräumen auf der anderen Seite.
    Sie ging um das Haus herum in die Gasse für die Anlieferungen. Tatsächlich machte die Hintertür den Eindruck eines Wohnungszugangs.
    Die äußere Tür stand offen, damit frische Luft durch die Fliegendrahttür strömen konnte, und sie klopfte an den Türrahmen. „Hunter!“ rief sie. „Ich bin es, Avery!“
    Von drinnen ertönte ein Schlurfen, gefolgt von einem Wimmern. Stirnrunzelnd klopfte sie noch einmal. „Hunter, bist du da?“
    Das Wimmern ertönte wieder. Sie blickte durch das schmutzige Drahtgeflecht. Der Raum hinter der Tür schien eine Küche zu sein, und die war leer.
    Von drinnen erklang ein dumpfer Schlag, als fiele etwas auf den Boden – etwas oder jemand.
    Entschlossen drückte sie gegen die Drahttür und trat ein. Abgesehen von einer Hand voll Geschirr im Spülbecken war die Küche makellos sauber.
    Mit Herzklopfen ging sie weiter. „Hunter?“ rief sie wieder. „Ich bin es, Avery! Ist alles in Ordnung mit dir?“
    Diesmal nur Stille, kein Wimmern, Schlurfen oder

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