Stadt des Schweigens
dahin-zuschmelzen vor Behagen.
Avery beobachtete die beiden und dachte unwillkürlich, dass Hunter nicht so herzlos sein konnte, wie er tat. „Sie scheint dir treu ergeben zu sein.“
„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich habe sie gefunden, als sie genauso heruntergekommen war wie ich. Ich dachte, wir wären ein gutes Paar.“
Sie schwiegen einen Moment. Avery hätte ihn gern gefragt, welche Umstände dazu geführt hatten, dass er wieder hergezogen war, wollte den Augenblick der Kameradschaft jedoch nicht zerstören.
Stattdessen deutete sie zum Computer. „Deine Familie hat nicht erwähnt, dass du einen Roman schreibst.“
„Sie wissen es nicht. Auch sonst weiß es keiner, außer jemandem, der hier einbricht und das Manuskript liest.“ Er stand auf, und Sarah blieb neben ihm. „Es wäre mir lieb, wenn du ihnen nichts davon erzählen würdest.“
„Wenn du es so willst. Aber ich bin sicher, sie würden dich dabei sehr stark unterstützen …“
„Ich will es so.“
„Also gut.“ Sie legte den Kopf schräg. „Wovon handelt das Buch?“
„Es ist ein Thriller über einen Anwalt, der vor die Hunde geht.“
„Dann ist es autobiografisch?“ „Was tust du hier, Avery?“
Um den heißen Brei herumzureden wäre wohl Zeitverschwendung. „Ich möchte mit dir über deine Mutter sprechen.“ „Welch ein Schock.“
Sein Sarkasmus ärgerte sie. „Ich habe euch zwei heute Morgen streiten sehen. Sie war wirklich aufgebracht, Hunter. Um nicht zu sagen hysterisch.“
Er reagierte nicht. Weder mit Überraschung, Reue, Sorge noch Schuldbewusstsein.
Seine scheinbare Ungerührtheit brachte sie in Rage. „Hast du nichts dazu zu sagen?“
„Nein.“
„Sie war nicht mal mehr in der Lage, selbst zu fahren, Hunter! Ich musste sie heimbringen.“
„Was soll ich dazu sagen? Dass es mir Leid tut?“
„Das wäre ein Anfang.“
„Das sage ich nicht. Sonst noch was?“
Sie starrte ihn an, fassungslos, dass er so kalt gegenüber seiner Mutter und seiner Familie sein konnte.
Als sie ihm das sagte, lachte er nur. „Na, das ist ja gelungen. Wer sagt das wem?“
„Was soll das denn heißen?“
„Du weißt verdammt gut, was das heißt. Wo warst du in den letzten Jahren, Avery?“
Sie durchschaute seine Strategie und wollte ihm nicht gestatten, vom Thema abzulenken. „Wir reden hier nicht von mir, Hunter, sondern von dir. Du machst immer nur andere für deine Probleme verantwortlich, nur dich selbst nicht. Warum wirst du nicht erwachsen?“
„Und warum hältst du dich nicht da raus, Miss Großstadtreporterin? Kehr zurück zu deinem wichtigen Job. Das hier ist nicht mehr dein Leben … war es vermutlich nie.“
Gekränkt schlug sie zurück: „Du kannst von Glück sagen, dass du eine so großartige Familie hast, die zu dir hält, obwohl du ein solcher Dummkopf bist. Warum kannst du nicht ein bisschen Dankbarkeit zeigen?“
„Dankbarkeit?“ Er lachte freudlos. „Großartige Familie? Für eine Reporterin, die was auf Recherche gibt, bist du verdammt beschränkt.“
„Keine Familie ist perfekt, aber wenigstens fühlen sich die Stevens einander verbunden und versuchen, in guten und in schlechten Zeiten füreinander da zu sein.“
„Wann hast du dich zur Expertin für meine Familie entwickelt? Wie lange bist du hier? Eine Woche? Warte!“ Er tippte sich an die Stirn. „Ich hab’s. Du bist Hellseherin.“
„Es ist sinnlos, mit dir diskutieren zu wollen.“ Sie ging zur Tür. „Ich bin weg.“
„Natürlich. So machst du das ja immer.“
Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich langsam zu ihm um. „Wie bitte?“
„Wo warst du die letzten zwölf Jahre?“
„Falls es dir entgangen sein sollte: Cypress Springs ist nicht gerade der Ort, wo man als Journalistin Karriere machen kann.“
Er kam einen Schritt auf sie zu. „Du hast es gerade nötig, mir vorzuhalten, wie ich meine Mutter behandele. Und wie warst du zu deiner? Wie oft hast du sie denn noch besucht, nachdem du ausgezogen warst?“
„Ich habe angerufen, und ich war so oft hier, wie ich konnte. Mein Beruf erlaubte es nicht, einfach herzukommen, wenn mir danach war.“
„Wie lange bist du nach ihrer Beerdigung geblieben, Avery? Vierundzwanzig Stunden oder vielleicht sechsunddreißig?“
Sie wandte sich wieder der Tür zu, doch Hunter folgte ihr und hielt sie am Arm fest. „Und wo warst du, als dein Vater so depressiv wurde, dass er sich selbst angezündet hat?“
Ein weinerlicher Laut entrang sich ihrer Kehle. Sie wollte
Weitere Kostenlose Bücher