Stadt des Schweigens
sie an. „Weißt du das denn nicht? Sal ist vor sechs Monaten gestorben.“
„Gestorben?“ wiederholte sie entgeistert. Sal hatte sie stets unterstützt und ermutigt, Journalistin zu werden. Nach jedem Schritt auf der Karriereleiter hatte er ihr eine Glückwunschkarte geschickt. Und jedes Mal war sein Stolz auf ihre Leistung durchgeschimmert. „Das wusste ich nicht.“
„Jagdunfall“, erklärte er und presste die Lippen zusammen.
Avery zuckte innerlich zusammen und bekam eine Gänsehaut. „Ein Jagdunfall?“
„Es passierte am ersten Tag der Saison. Sal wurde erschossen. Genauer gesagt riss ihm die Kugel den halben Kopf weg.“
Ihr Magen wollte rebellieren. „Mein Gott. Wer war der Schütze?“
„Ich weiß nicht. Man hat es nie festgestellt.“
„Das klingt, als hätte es auch Mord sein können.“
„So hat Buddy das nicht gesehen. Außerdem, wer sollte Sal umbringen wollen?“
Dad und Sal Mandina, zwei Männer, die als Stützen der Gesellschaft galten, zu denen man aufsah. Beide im letzten halben Jahr ums Leben gekommen und keiner auf natürliche Art!
Rickey räusperte sich, und sie kam auf ihr Anliegen zu sprechen. „Ich recherchiere gerade in einer Sache und hätte mir gern die archivierten Ausgaben der Gazette angesehen.“
„Klar. Wonach suchst du?“
„Nach dem Mord an Sallie Waguespack.“
„Kein Witz? Wie kommt das denn?“
Avery entschied sich für Halbwahrheiten. „Dad hat einige Zeitungsausschnitte aufbewahrt. Ich konnte mir die Geschichte nicht mehr zusammenreimen und wollte mein Gedächtnis auffrischen.“ Sie lächelte. „Macht es dir was aus?“
„Nicht im Geringsten. Komm.“ Er führte sie in den Nachrichtenraum und von dort in die obere Etage. „Das war die größte Story, die wir hier je hatten. Es wundert mich nicht, dass dein Dad Ausschnitte aufbewahrt hat.“
„Nein? Wieso?“
„Weil dieser Mord einen Aufruhr in der Gemeinde verursachte. Danach änderte sich vieles.“ „Das hat Buddy auch gesagt.“ „Du hast mit ihm darüber gesprochen?“
Klang da etwa Erleichterung durch oder bildete sie sich das nur ein? „Sicher. Schließlich waren er und Dad die besten Freunde.“
Er öffnete die Tür zum Archiv, schaltete das Licht an und trat ein. Es roch nach alten Zeitungen. Der Raum war voller Regale mit gebundenen Ausgaben der Gazette. Mitten im Raum stand ein Klapptisch mit einem Stuhl auf jeder Seite. Die Kehle begann ihr zu kribbeln, zweifellos vom Staub.
„Ruf mich, wenn du was brauchst. Ich arbeite an der Samstagsausgabe. Die Fußballliga der Kleinen läuft auf Hochtouren.“ Er deutete auf die Schmalseite des Raumes. „Die Ausgaben der Achtziger stehen dort drüben, nach Datum geordnet.“
Sobald sie allein war, holte sie sich die Ausgabe vom 6. Februar und fand den Artikel, wie Gwen gesagt hatte.
Junger Mann vermisst.
Tom Lancaster, Doktorand an der Tulane Universität, wird seit Sonntagnacht vermisst. Das Sheriff Department befürchtet ein Verbrechen. Deputy Sheriff Matt Stevens vermutet, dass Lancaster Opfer eines zufälligen Gewaltaktes wurde. Die Untersuchungen dauern an.
Avery schöpfte zitternd Atem. Eine Wahrheit schuf noch keine Fakten. Die besten Lügen bestanden aus Halbwahrheiten. Auch wenn ein Element glaubhaft war, durfte man nicht blindlings dem Rest vertrauen.
Sie fand noch eine Reihe Artikel über Sals Tod. Da er Chefredakteur der Gazette gewesen war, hatte man ausführlich über den Fall berichtet. Wie Rickey erzählt hatte, war er am Eröffnungstag der Jagdsaison erschossen worden. Der Schuldige wurde nicht gefunden, obwohl man alle Bürger mit einer Jagdlizenz überprüfte.
Buddy hatte ermittelt, dass Sal aus der Ferne mit einer Browning, Kaliber 270, einem Bolzengewehr, erschossen worden war. Sowohl Gewehr wie Kugel, ,Nosler Ballistic Tip’, wurden von den örtlichen Jägern bevorzugt. Die Beisetzungsfeier hatte bei geschlossenem Sarg bei den Gallaghers stattgefunden.
In einem hatte Rickey sich allerdings geirrt. Buddy hatte den Tod als Mord eingestuft.
In den nächsten zwei Stunden arbeitete sie sich durchs Archiv und fand Erschreckendes.
Gwen Lancaster hat nicht fantasiert.
Avery nahm ihren Block auf und überflog die Notizen. Sie hatte jeden nicht natürlichen Tod aufgelistet. Kevin Gallagher, Danny Gallaghers Vater, war dieses Jahr gestorben. Ein Autounfall auf dem Highway 421, gleich außerhalb der Stadt. Sein Lexus war ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt. Er war nicht angeschnallt gewesen und
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