Stadt des Schweigens
Cherry sechs Kugeln in die Kammern gab und sie dann zuklappte. „Auf was schießt du?“
„Auf irgendwas. Den Hühnerstall, auf Dosen oder Flaschen. Dad besitzt eine von Hand betriebene Wurfmaschine für Tontauben. Manchmal schießen wir auf Tontauben, aber mit Jagdgewehren oder Schrotflinten.“ Sie öffnete den Kofferraum ihres Autos und holte einen Karton mit Dosen heraus. Avery sah zu, wie sie die Dosen auf den Strohballen und auf Dach und Fenstersimsen des Hühnerstalls verteilte.
Dann lief sie zurück, prüfte ihre Waffe, zielte und feuerte los, sechsmal. Die Dosen flogen herunter. Die letzte verfehlte sie allerdings und fluchte.
Sie streifte Avery mit einem Blick. „Ich habe gehört, worüber du mit Mom gesprochen hast. Die alte BIS-Gruppe.“
„Du erinnerst dich daran?“
„Klar. Ich erinnere mich an alles aus der Zeit.“
„Eigenartig, ich weiß kaum noch etwas von damals.“
Cherry lud die Kammern wieder. „Das ist gar nicht eigenartig. Ich erinnere mich wegen meiner Familie so deutlich an alles.“
„Es war eine harte Zeit, hat dein Dad gesagt.“
„Das ist noch eine ziemliche Untertreibung.“ Sie schwieg einen Moment, als hänge sie ihren Gedanken nach.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Schieß los.“ Cherry grinste. „Die Pointe konnte ich mir nicht entgehen lassen.“
„Hast du Elaine St. Claire gekannt?“
„Wen?“
„Die Frau, die ermordet wurde.“
Cherry peilte ihr Ziel an, zog den Abzug, und die Kugel schoss mit Explosionsknall aus der Waffe. Sie wiederholte den Vorgang noch fünfmal, ehe sie Avery ansah. „Nur ihren Ruf.“
„Wie meinst du das?“
Cherry zog eine Braue hoch. „Komm schon, Avery. Die hat mehr Matratzen gesehen als der Verkäufer vom Bettengeschäft.“
Avery war schockiert. „Die Frau ist tot, Cherry. Es scheint mir unangemessen, so über sie zu reden.“
„Ich bin nur ehrlich. Soll ich lügen, bloß weil sie tot ist? Dann wäre ich eine Heuchlerin.“
„Kennst du den Spruch: leben und leben lassen?“
„Das ist Großstadtgequatsche, propagiert von Leuten, die nichts verändern und die Zufriedenheit der breiten Masse nicht stören wollen. Du musst mit dem Kroppzeug leben.“
„Und ihr nicht?“
Verblüfft sah sie Avery an. „Nein, wir nicht. Das hier ist Cypress Springs, nicht New Orleans. Wir leben in einer Kleinstadt, in der Moral noch etwas bedeutet.“
„Soll das heißen, Elaine St. Claire hat bekommen, was sie verdiente? Bist du froh, dass sie tot ist?“
„Natürlich nicht.“ Sie öffnete die Kammer, lud sie erneut und ließ sie zuschnappen. „Niemand verdient so etwas. Aber wenn du fragst, ob es mir Leid tut, dass sie die Beine nicht mehr für jeden breit machen kann, muss ich sagen: nein.“
Avery war sichtlich erschrocken, und Cherry lächelte zynisch. „Habe ich dich schockiert?“
„Ich hätte nicht gedacht, dass Matts kleine Schwester so daherredet.“
„Du weißt nicht viel von mir, Avery.“ „Klingt bedrohlich.“
Cherry lachte. „Kein bisschen. Du bist nur vor langer Zeit schon weggegangen. Das ist alles.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, fixierte sie ihr Blechziel und feuerte. Sechs Schüsse, sechs Treffer.
Avery beobachtete sie erstaunt und anerkennend, zugleich aber voller Unbehagen, besonders nach dieser Unterhaltung. Ihr fiel auf, wie durchtrainiert ihre Arme waren. Der Bizeps wölbte sich, wenn sie die Waffe hielt, und der Rückstoß schien ihr kaum etwas auszumachen.
Cherrys kraftvoller, durchtrainierter Körperbau war ihr noch nie so aufgefallen. Zugegeben, im Vergleich zu ihrer eigenen Zartheit kam ihr fast jeder kraftvoll vor.
Eigentlich hatte sie Cherry immer als mädchenhaften Typ gesehen, als jüngere Variante der Südstaatenlady, wie Lilah sie verkörperte oder früher auch ihre Mutter. Der Wildfang, der nicht in dieses Bild gepasst hatte, war sie gewesen. Aber nun gebärdete Cherry sich wie ein Macho und nietete reihenweise Blechdosen um.
Erneut lud sie die Waffe, drehte sich um und hielt sie Avery hin, mit dem Griff voraus. „Möchtest du es versuchen?“
Avery zögerte. Sie verabscheute Waffen und gehörte zu denen, die alle Waffen der Welt am liebsten konfisziert hätten, damit die Menschen sich zusammensetzten, um ihre Streitigkeiten zu regeln – vielleicht bei einem Mokka oder Milchkaffee.
Cherrys provokantes Grinsen ließ sie jedoch nach der Waffe greifen. „Okay, zeig mir, was ich tun muss.“
„Es hilft, wenn man sich breitbeinig hinstellt.“ Sie machte es
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