Stadt des Schweigens
vor. „Beide Hände um den Griff legen. So ist es gut“, sagte sie, als Avery ihre Anweisung befolgte.
„Ich komme mir ziemlich blöd vor“, erwiderte Avery. „Wie ein Möchtegern-Schwarzenegger.“
„So habe ich mich auch gefühlt. Aber mit der Zeit wird es dir gefallen.“
Wenn Schweine fliegen lernen. „Und jetzt?“
„Zielen und schießen. Aber Vorsicht, sie hat Rückschlag.“
Avery zielte auf die am nächsten stehende Dose und betätigte den Abzug. Die Wucht des Rückschlags ließ sie taumeln. Sie spähte zu ihrem Ziel. „Habe ich getroffen?“
„Nein. Vielleicht versuchst du das nächste Mal, die Augen aufzulassen.“
„Mist.“
„Versuch’s noch mal.“
Avery tat es und schoss sauber daneben. Nach dem sechsten Versuch gab sie die Waffe zurück. „Meine Karriere als Schützin ist offiziell beendet.“
„Du änderst deine Einstellung vielleicht, falls du in Cypress Springs bleibst.“
„Rechne nicht damit.“ Sie sah, dass Cherry die Waffe mit einer Ehrfurcht behandelte, die ihr völlig fehlte. „Was ist so reizvoll an so einem Ding? Ich verstehe das nicht. Für mich ist es nur ein Gegenstand, allerdings ein gefährlicher.“
Cherry dachte einen Moment nach. „Sie gibt mir ein Gefühl von Macht und Kontrolle.“
„Das ist eine seltsame Antwort.“
„Wirklich? Ist es nicht das, worum es bei Waffen eigentlich geht? Um Macht und Kontrolle? Um Gewinnen?“
„Und ich dachte immer, es ginge ums Töten.“
„Es gibt immer ein paar böse Buben, die dir nehmen wollen, was dir lieb und teuer ist. Das sind Menschen ohne Moral und Gewissen. Waffen und die Fähigkeit – oder Bereitschaft – sie einzusetzen, sind eine notwendige Abschreckung.“
Avery führte diese Diskussion nicht zum ersten Mal und wusste, dass sie nicht gewinnen konnte. Cherry hatte nicht unbedingt Unrecht, aber sie selbst war Idealistin genug, um zu glauben, dass es einen anderen Weg gab. „Du sagst, Gewalt kann man nur mit Gewalt bekämpfen? Und dass man auf Gewalt mit noch größerer Gewalt reagieren muss, bis wir den Planeten in die Luft jagen?“
„Der mit der größten Knarre gewinnt.“
Kurz darauf fuhr Avery ab. Im Rückspiegel sah sie vor dem glutrot gefärbten Abendhimmel Cherry neben ihrem Wagen stehen und ihr nachsehen.
Ihr Ausflug mit Cherry hinterließ einen schalen Nachgeschmack, fast so, als hätte sie etwas Unrechtes getan. Als wäre sie Zeugin einer hässlichen Tat geworden, ohne einzugreifen.
Was hatte Gwen Lancaster über Die Sieben gesagt?
Jeder, dessen Verhalten außerhalb dessen lag, was man als gut, moralisch und nachbarschaftlich ansah, wurde aufs Korn genommen? Ehe alles vorbei war, hatten sie im Namen von Recht und Gesetz die Rechte ihrer Mitbürger verletzt.
Avery fragte sich unwillkürlich, ob die Frau, mit der sie die letzte Stunde verbracht hatte, an so etwas beteiligt sein könnte.
Ja, absolut. Sie hatte Schwierigkeiten, die Cherry Stevens, die sie heute kennen gelernt hatte, mit jener lieben, sensiblen Person in Einklang zu bringen, die ihr am ersten Tag Frühstück gebracht hatte.
An dieser Cherry heute hatte nichts gestimmt, weder ihre Bemerkungen über Elaine St. Claire noch der leicht abschätzige Ton, den sie ihr, Avery, gegenüber anschlug.
Aber warum verhielt sie sich so? Das ergab keinen Sinn. Weshalb zeigte sie offen Feindseligkeit oder verkündete gar ihre Überzeugungen, wenn sie tatsächlich zu der Sieben gehörte? Wenn sich jeder aus der Gruppe derart zu erkennen gab, konnten die Mitglieder ihre Anonymität nicht wahren.
Als sie an der Kreuzung halten musste, war sie verblüfft über die eigenen Gedanken. Offenbar nahm sie die Existenz der Sieben bereits als gegeben hin. Sie unterstellte einfach, dass es Die Sieben gegeben hatte und wieder gab und dass jeder ein mögliches Mitglied war.
Beklommen suchte sie Gwens Telefonnummer aus der Tasche, drückte die Ziffern in ihr Handy ein und hörte nach dem dritten Klingeln, wie sich Gwens Anrufbeantworter einschaltete.
„Hier spricht Avery Chauvin. Sie haben meine volle Aufmerksamkeit, Gwen. Rufen Sie mich an.“ Dann gab sie ihre Handynummer und die des Telefons im Haus ihrer Eltern an.
Durch das offene Fenster hörte sie einen Schuss und zuckte zusammen. Sofort schloss sie das Fenster, auch um den säuerlichen Gestank loszuwerden.
30. KAPITEL
Der Vollstrecker betrat den Kriegsraum. Es war schwierig gewesen, heute, am Freitagabend, wegzukommen – er hatte sich verspätet. Seine Generäle waren bereits alle
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