Stadt, Land, Kuss
sie verstohlen das kleine Kind beobachtet, das am Tisch gegenüber in seinem hohen Stuhl herumzappelt und Vanillebiskuitkuchen zwischen den Fingern zerquetscht. »Es ist, als wäre sie … na ja, sie ist wie mein Kind.«
Bei dem Wort »Kind« verstummen plötzlich alle Gespräche im Raum. Scones schweben zwischen Teller und Mund, Löffel verharren zwischen Zuckerdose und Tasse. Cheryl, die Besitzerin des Copper Kettle, von der ich geschworen hätte, dass sie noch vor einer Sekunde hinter dem Tresen stand und frischen Schokoladenkuchen schnitt, taucht wie aus dem Nichts an unserem Tisch auf und wischt sich die Hände an ihrer gerüschten Schürze ab.
»Ein Kind? Habe ich hier jemanden sagen hören, er bekäme ein Kind?«, fragt sie. »Herzlichen Glückwunsch, Emma – dachte ich mir doch gleich, dass du für zwei isst.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, Cheryl«, sagt Emma mit unnatürlich glänzenden Augen und einem gezwungenen Lächeln. Da stimmt doch etwas nicht. Sie verschweigt mir etwas. Sie ist erst dreißig, genau wie ich, also hat sie noch keine Eile. Aber früher, bevor die Einrichtung und die Leitung ihrer eigenen Praxis ihre ganze Zeit und Energie aufzufressen begannen, machte sie immer Witze darüber, dass sie später einmal eine Familie haben wolle, die so groß wäre wie eine ganze Fußballmannschaft. Plötzlich fällt mir auf, dass sie schon lange nicht mehr über Kinder gesprochen hat.
»Dann bekommst du also keins?«, hakt Cheryl überrascht nach.
»Nein«, erwidert Emma scharf, und ein Löffel klirrt gegen einen Teller, eine Tasse gegen eine Untertasse, »ganz bestimmt nicht.« Ihre Stimme klingt wieder sanfter, als sie fortfährt: »Bitte, Cheryl, erzählen Sie dieses dumme Gerücht nicht weiter.«
Cheryls geknickter Miene nach zu urteilen vermute ich, dass das Gerücht bereits in der ganzen Stadt die Runde gemacht hat, und ich fühle Mitleid mit Emma. Es muss schwer sein, in einer Kleinstadt zu leben, wo alle über einen reden. Zumindest würde es mir schwerfallen, damit klarzukommen.
»Ich versuche gerade meine Freundin Maz davon zu überzeugen, dass es viel schöner ist, hier bei uns in Talyton als Tierärztin zu arbeiten als in London«, erzählt Emma Cheryl.
»Wir gehen ja mit unseren Babys immer ins Talyton Manor«, erklärt Cheryl und meint damit die andere Tierarztpraxis in Talyton, eine von Vater und Sohn geführte alteingesessene Praxis, in der sowohl Nutztiere und Pferde als auch Katzen und Hunde behandelt werden. »Die Fox-Giffords sind seit Generationen Tierärzte. Bei so viel Erfahrung würden wir niemals einer anderen Praxis vertrauen.«
Emma zwinkert mir zu. Ich sehe, dass sie mit dieser Regelung mehr als zufrieden ist. Leute, die ihre Tiere »Babys« nennen, stellen im Allgemeinen hohe Ansprüche an ihren Tierarzt, und ich habe den Eindruck, dass man Cheryl mit ihren scharf geschnittenen Zügen und dem kurzen schwarzen, in säuberliche Kringellöckchen gelegten Haar in dieser Hinsicht kaum etwas recht machen kann.
»Cheryl und ihre Schwester Miriam züchten Perserkatzen«, erklärt Emma, als Cheryl davonschwebt, um zwei junge Touristenfamilien zu begrüßen, die gerade hereingekommen sind. »Die Fox-Giffords können sie gern geschenkt haben – und umgekehrt.« Ich weiß, dass Emma und die Tierärzte vom Talyton Manor einander nicht besonders mögen, trotzdem wundert mich die Verbitterung, die in ihrer Stimme mitschwingt, wenn sie über sie spricht. Die Fox-Giffords haben Emma nach Kräften Steine in den Weg gelegt, als sie ihre Praxis eröffnete, aber ich dachte, die Lage hätte sich seitdem wieder beruhigt. Das war offensichtlich ein Irrtum. »Ich hoffe, sie fangen nicht wieder an, sich aufzuspielen«, fährt Emma fort. »Ignoriere sie einfach, wenn sie dich beschuldigen, ihre Kunden abzuwerben oder ihre Honorare zu unterbieten. Lass dich ja nicht in eine Auseinandersetzung verwickeln.«
»Ich habe noch gar nicht gesagt, dass ich es mache«, wende ich vorsichtig ein. Ein Teil von mir würde Emma den Gefallen gerne tun. Doch der andere Teil würde sich am liebsten so weit wie möglich fernhalten. Ich habe nicht die geringste Lust, mich in den albernen Kleinkrieg zweier konkurrierender Praxen hineinziehen zu lassen. Die Arbeit ist auch ohne solche Komplikationen stressig genug.
»Entschuldige.« Emma holt ihr Handy aus ihrer Handtasche – dem Klingelton nach zu urteilen hätte ich fast mit einem altmodischen Bakelittelefon gerechnet, aber es ist ein
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