Stadt, Land, Kuss
flaches blaues Modell – und meldet sich mit »Tierarztpraxis Otter House. Emma am Apparat. Was kann ich für Sie tun?« Während sie zuhört, beißt sie einen ihrer Fingernägel bis aufs Nagelbett ab, und ich denke mir, wie typisch es doch für sie ist, dass sie vor lauter Sorge um andere ganz vergisst, auf sich selbst zu achten.
»Gut, dann treffen wir uns gleich in der Praxis«, meint sie, beendet das Gespräch und steckt das Handy zurück in die Tasche – zusammen mit einem Päckchen Aspirin, das herausgefallen ist, als sie das Handy herausnahm. »Ein Verkehrsunfall. Ich muss los.«
»Ich komme mit.«
»Das brauchst du nicht …«
Ich nehme meine kurze goldgelbe Jacke von der Rückenlehne des Stuhls und ziehe sie über meine Tunika und die enge Röhrenjeans. Auf die Einwohner von Talyton St. George wirkt dieses Outfit wahrscheinlich recht exzentrisch, und niemand hier ahnt, dass es in London der letzte Schrei ist. Emma hatte noch nie einen besonderen Sinn für Mode, und selbst dieser kümmerliche Rest scheint inzwischen im Schlamm einer übertriebenen Zuneigung zu weichen Schafwollpullovern und zeitlosen marineblauen Röcken versunken zu sein. Sie sieht nicht aus wie eine erfolgreiche junge Akademikerin, sondern eher wie die Frau eines Kricketspielers der ersten Liga auf dem Weg zum Afternoon Tea im Clubhaus. Das meine ich nicht böse – doch sie braucht Hilfe, und wenn ich diejenige sein soll, die ihr hilft, dann möchte ich lieber vorher wissen, worauf ich mich einlasse.
Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Tasche, aber Emma ist schneller.
»Du bist eingeladen«, sagt sie und legt das Geld auf den Tisch, ehe wir durch die Fore Street zurückhasten und in die Einfahrt neben einem hübschen dreistöckigen georgianischen Haus einbiegen, dessen Außenputz die gleiche Farbe hat wie die Sahne, die vorhin zu den Scones serviert wurde.
»Der Besitzer des angefahrenen Hundes hat vor ungefähr einem Jahr das Talymill Inn gekauft. Davor war er Polizist in London«, informiert mich Emma, während sie die doppelflügelige Glastür aufschließt, die in den modernen, wintergartenähnlichen Anbau an der Seite des Hauses führt. »Der Patient ist ein ehemaliger Polizeihund. «
Rechts neben der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift »Kleintierpraxis Otter House« in dunkelblauer Schrift auf weißem Grund, dazu ein Logo, das einen Otter darstellt, die Sprechzeiten und eine Telefonnummer. Darunter ist ein Messingschild mit der Gravur »Emma Kendall MA VetMB MRCVS« angebracht, die sie als examinierte Tierärztin und Mitglied des Royal College of Veterinary Medicine ausweist.
Ich folge ihr zur Anmeldung. Es ist schon eine Weile her, seit ich zum letzten Mal hier war, und der gesamte Bereich ist neu gestaltet worden. Alles ist blau: dunkelblaue Stühle, blassblaue Wände, ein blaugrauer rutschfester, leicht zu reinigender Bodenbelag. Und als wäre das nicht schon genug Blau (Emmas Lieblingsfarbe, wie mir jetzt wieder einfällt), sind auch die Rahmen der Aushangtafel und der drei dekorativen Meeresansichten marineblau. Ich habe keine Zeit, mich noch weiter umzuschauen, denn ein Mann Mitte fünfzig kommt schwankend auf uns zu. Er ist kräftig gebaut, mit einem beeindruckenden Bauchumfang, und statt seine Haare quer über den Kopf zu kämmen, um die kahle Stelle darunter zu verstecken, hat er sich für eine Komplettrasur entschieden. In den Armen hält er einen großen alten Deutschen Schäferhund.
»Hier entlang.« Emma führt ihn hastig ins Behandlungszimmer. »Legen Sie ihn auf den Tisch.« Ich folge ihnen und schließe die Tür hinter mir. Emma nimmt ein Stethoskop und horcht den Hund, dessen Bauch jedem Fat Fighter Konkurrenz machen könnte und der den typischen Geruch nach warmem Hund, Ohrenschmalz, Axe und schalem Bier verströmt, kurz ab. »Es tut mir sehr leid – Mr Taylor, nicht wahr?«
Keuchend und vor Schmerz wimmernd versucht der Hund aufzustehen.
»Clive, bitte. Und das ist Robbie. Es war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst.« Er erschauert. »Gerade saß er noch neben mir, und dann lag er auch schon auf der Straße unter diesem verfluchten Traktor.« Er hat einen Ostlondoner Akzent. Sein Hemd und die Jeans sind blutverschmiert, und genau wie sein Hund scheint er unter Schock zu stehen.
»Es tut mir leid«, wiederholt Emma, »allerdings glaube ich nicht, dass er durchkommt. Robbie hat innere Blutungen, sein Zahnfleisch ist sehr blass.« Sie zieht die Lefzen des Hundes hoch, um es ihm zu
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