Stadt, Land, Kuss
den Fesselgelenken des Kalbs, um es daran herauszuziehen.
»Halt mal kurz fest«, bittet er mich, »ich muss den Schnitt noch etwas erweitern.«
Wir arbeiten zusammen, und begleitet von einem Schwall Fruchtwasser rutscht das Kalb schließlich heraus. Wir legen es ins Stroh, wo es reglos liegen bleibt. Alex beginnt den langen Schnitt in der Seite der Kuh zu nähen, während ich die Schnauze des Kälbchens von Schleim und Membranresten säubere und dabei seinen Brustkorb beobachte.
»Es atmet nicht«, sage ich drängend.
Stewart tritt einen Schritt vor und zieht das Kalb an den Hinterbeinen hoch, damit das Fruchtwasser aus seinen Lungen laufen kann.
»Und jetzt?«, fragt er, nachdem er es wieder hingelegt hat, und geht neben mir in die Hocke.
Ich schüttele den Kopf, und Stewart flucht. Lynsey und Sam beobachten uns angespannt. Keiner sagt ein Wort. Alex konzentriert sich darauf, die Wunde zu nähen, denn er weiß, je eher er damit fertig ist, desto schneller kann er uns helfen. Er hatte recht, als er sagte, dass es ein großes Kalb sei. Es wäre ein schmerzlicher Verlust, wenn es jetzt sterben würde.
Ich reibe den Körper des Kälbchens mit Stroh ab und versuche es so dazu zu bringen, zum ersten Mal allein zu atmen. Nach einer Weile höre ich kurz damit auf und halte mein Gesicht dicht vor sein Maul, um zu prüfen, ob ich einen Luftzug durch seine Nasenlöcher spüre. Nichts.
Ich überlege gerade, wie man bei einem Kalb wohl eine Mund-zu-Mund-Beatmung vornehmen könnte, als Sam plötzlich neben mir auf die Knie fällt. Er nimmt einen Strohhalm und steckt ihn dem Kälbchen in die Nase, woraufhin dieses niest und den Kopf schüttelt. »Geschafft«, sagt er, und seine Augen leuchten triumphierend.
»Gut gemacht, Sam«, lobe ich ihn, während das Kälbchen sich mühsam hochrappelt.
»Bulle oder Färse?«, will Stewart wissen, und die Erleichterung in seiner Stimme ist unüberhörbar.
Sam zieht das Hinterbein des Kalbs zurück.
»Eine Färse, Dad. Das heißt, sie kann bei uns auf dem Hofbleiben.« Er dreht sich zu Alex um. »Dad hat mir versprochen, dass ich irgendwann ganz allein melken darf.«
»Wenn wir den Hof dann noch haben«, brummt Stewart leise, aber ich glaube nicht, dass Sam oder Alex ihn gehört haben.
»Das ist ja toll, Sam.« Alex bindet den letzten Knoten und schneidet den Faden ab. »Ich bin hier fertig. So, Sam, als Nächstes musst du dafür sorgen, dass das Kalb trinkt.«
»Wie unsere kleine Schwester.« Er zerrt das Kalb zu seiner Mutter hinüber und hilft ihm beim Aufstehen. Es schwankt wie ein Betrunkener, dann stupst es mit der Schnauze gegen das Euter der Kuh, schließt das Maul um eine ihrer Zitzen, aus der schon die erste Milch tröpfelt, und beginnt schmatzend zu saugen.
»Perfekt.« Alex wäscht sich im Eimer die Hände und trocknet sie mit einem Handtuch ab. Ich folge seinem Beispiel und helfe ihm anschließend beim Einpacken des OP-Bestecks.
»Na, Maz, wie lange bleiben Sie noch in Talyton?«, fragt Stewart, als er uns zurück zu Alex’ Wagen folgt.
»Sie ist gekommen, um sich von mir zu verabschieden«, antwortet Alex, und seine Stimme klingt etwas gepresst. »Bald ist sie wieder zurück im Lichterglanz der Großstadt. Ich muss gestehen, sie wird mir fehlen.«
Falls ich noch irgendwelche Zweifel hatte, ob es wirklich richtig sei, in Talyton zu bleiben, sind sie dank Lynseys und Stewarts Herzlichkeit verflogen.
»Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass ich nirgendwohin gehe«, korrigiere ich ihn und lächle über seine verblüffte Miene. »Emma hat mich gebeten, als ihre Partnerin ins Otter House einzusteigen. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich hierbleibe.«
»Warum hast du das nicht schon früher gesagt?«, fragt Alex. Seine Stimme klingt tadelnd, allerdings umspielt ein Lächeln seine Lippen.
»Das habe ich ja versucht, als ich bei euch angekommen bin, aber du hast gleich im Barnscote angerufen, und da dachte ich, es sei besser, zu warten und dir beim Essen davon zu erzählen.«
Stewart sieht auf seine Armbanduhr. »Mittlerweile ist es wohl ein bisschen spät fürs Barnscote. Wir sind hier schließlich auf dem Land – ich glaube, sie schließen um zehn. Ihr könnt bei uns mitessen, wenn ihr wollt. Lynsey hat einen Eintopf auf dem Herd.«
Alex sieht mich an. Seine Augen leuchten, und wir denken beide das Gleiche. Essen gehen hatte von Anfang an nichts mit essen zu tun …
»Danke für das Angebot, Stew, aber wir müssen zurück«, sagt Alex. »Ich muss
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