Stadt, Land, Kuss
ich eigentlich recht schmeichelhaft fand.«
»Ich habe damals keinen besonders guten ersten Eindruck hinterlassen, was?«, sage ich und denke daran zurück, wie ich mit dem Knoten an der Segeltuchrolle kämpfte, in die mein Sektionsbesteck eingeschlagen war, bevor er sich plötzlich löste und all meine glänzenden neuen Skalpelle, Zangen und Scheren über den Boden rutschten und direkt vor Professor Vincents Füßen landeten.
»Na, einen hast du jedenfalls beeindruckt«, bemerkt Emma, während sie vom Sofa aufsteht.
»Ach, hör schon auf.« Ich weiß genau, von wem sie spricht. Ian Michelson. Er hatte rötlich blondes Haar, haselnussbraune Augen und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Er sah fantastisch aus, hatte scharf geschnittene Züge, ein strahlendes Lächeln und eine Brille, und er teilte sich mit uns einen Windhund. Als sich unsere behandschuhten Finger über der gefleckten Brust des Tieres streiften, setzte mein Herz einen Schlag aus, und ich verliebte mich in ihn. Wir waren fast sechs Jahre zusammen. Er war mein erster Freund, meine erste große Liebe, und er hat mir als Erster das Herz gebrochen.
Ich sehe Emma nach, als sie noch einmal nach Robbie schaut. Sie kontrolliert seine Wunde und zieht eine Decke über ihn, damit ihm nicht kalt wird.
Emma hat immer zu mir gehalten und mir durch alle schweren Zeiten hindurchgeholfen. Zum Beispiel damals, als ich glaubte, ich sei zu tollpatschig, um Tierärztin zu werden, oder als mir das Geld ausging und ich mein Studium fast hätte aufgeben müssen. Und darum werde ich jetzt für sie da sein. Auch wenn das bedeutet, dass ich sechs Monate lang meilenweit vom nächsten Starbucks entfernt in der Wildnis festsitze. Das bin ich ihr schuldig.
Auf dem Land
Mike hat nicht den Mumm, sich von mir zu verabschieden, aber so ist er nun einmal. Als ich nach ein paar Metern an der Ampel halte, werfe ich einen Blick in den Rückspiegel. Die Menschen im Wartezimmer der Crossways-Praxis zeichnen sich als Umrisse hinter den Fenstern ab, und soweit ich weiß, steht Mike versteckt hinter der Jalousie in seinem Behandlungszimmer.
Von den Leuten, die mit nach draußen gekommen sind, um mir zum Abschied zuzuwinken – ein paar Kollegen und der Mann aus dem Laden an der Ecke, der gleichzeitig einer meiner Lieblingstierhalter war –, ist nur noch Janine übrig, Mikes Exfrau, die mich vertrieben hat. Unter dem Vorwand, ihr Hund brauche seine Auffrischungsimpfung, ist sie heute in der Praxis aufgetaucht, und jetzt steht sie auf dem Bürgersteig, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und freut sich wahrscheinlich diebisch darüber, dass ich endlich verschwinde und Mike nicht mehr in Versuchung führen kann. Aber sie braucht sich keine Sorgen zu machen: Ehrlich gesagt, so, wie ich mich im Moment fühle, kann ich mir nicht vorstellen, dass mich jemals wieder ein Mann in Versuchung führen könnte. Sperren Sie mich ruhig mit Jude Law, Daniel Craig und Brad Pitt gleichzeitig in einen Raum, ich glaube kaum, dass mein Herz auch nur eine Spur schneller schlagen würde.
Als es grün wird, gebe ich Gas und reihe mich in den aus der Hauptstadt strömenden Verkehr ein.
In meinem Auto ist nicht viel Platz für Gepäck, und den größten Teil meiner Habseligkeiten habe ich per Kurier vorausgeschickt, aber ich habe ein paar Abfallsäcke aus der Praxis mit Kleidern und Büchern gefüllt und in den Fußraum des Beifahrersitzes gequetscht. Mindestens einer meiner ehemaligen Kommilitonen besitzt einen Aston Martin mit personalisiertem Nummernschild, K9 VET oder so ähnlich, und andere kutschieren in gewaltigen Spritfressern herum. Doch ich liebe mein schickes rotes Coupé, auch wenn es für eine Tierärztin eher unpraktisch ist.
Auf dem Beifahrersitz steht der Karton mit meinem Abschiedsgeschenk von Crossways: ein brandneues Stethoskop. Dazu eine von allen Kollegen unterschriebene Karte, auf der sie mich ermahnen, es diesmal nicht wieder im Schlafzimmer eines Mannes liegen zu lassen, was mir mit dem letzten passiert ist. Ich hatte einem Kunden – einem C-Promi, der vor Urzeiten bei Big Brother gewesen war – geholfen, seine Katze wieder einzufangen, die sich nach einem Blick auf mich unter dem Bett verkrochen hatte. Ehrlich.
Während der Fahrt schwanken meine Gefühle irgendwo zwischen Trauer und Selbstvorwürfen, weil ich nicht gemerkt habe, was Mike wirklich im Sinn hatte, wenn er Jane »einen Gefallen tat« und mit ihrem gemeinsamen Hund, einem durchgeknallten Irish Setter, der mit
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