Stadt, Land, Kuss
Vorliebe Kieselsteine verschluckte, Gassi ging. Ich dachte, es sei nur fair, dass er seinen Teil zur Hundebetreuung beitrug, wenn sie sich schon das Sorgerecht teilten. Wie kann man bloß so naiv sein?
Schließlich erreiche ich Devon, wo sich der Radiosender von ganz allein neu einstellt und ich bei einem Lokalsender lande, der seichten Pop aus den Achtzigern spielt. Auch das Wetter verändert sich: Der Wechsel aus Sonne und gelegentlichen Schauern weicht einem dauerhaften Nieseln. An der Abzweigung nach Talyton St. George biege ich auf eine schmale, von Hecken gesäumte Landstraße ein und gerate – ausgerechnet! – in einen Stau aus drei, vier Autos, die hinter einer Herde schwarz-weißer Kühe und einem Traktor mit einem Werbeaufkleber für britisches Rindfleisch her zockeln.
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr, und mein Blutdruck steigt, genau wie der Dampf von den Rücken der Kühe, die entspannt die Straße entlangspazieren und immer wieder stehen bleiben, um ein Büschel Gras zu fressen oder einen Fladen auf den Asphalt fallen zu lassen. Ich schalte den CD-Spieler ein. Und als Take That »Patience« zu singen beginnen, wird mir klar, dass ich mich an das langsamere Tempo hier draußen wohl gewöhnen muss.
Endlich erreiche ich Talyton und fahre über den Marktplatz, wo zwischen kunstvoll verzierten viktorianischen Laternen rote, weiße und blaue Fähnchen flattern, um die Touristen dazu zu verleiten, anzuhalten und dem Copper Kettle oder Lupins Andenkenladen einen Besuch abzustatten, ehe sie weiter in Richtung Küste fahren. Ich biege in die Fore Street ein, und da ist es. Mein Ziel, mein Zuhause für die kommenden sechs Monate: die Kleintierpraxis Otter House.
Ich lasse mein Gepäck im Wagen und renne durch den Regen ins Haus, wo eine Frau am Empfang sitzt. Sie ist nicht etwa blau gekleidet, wie man bei der ganzen Ausstattung hätte erwarten können, sondern trägt ein weit fallendes orangefarbenes Flower-Power-Oberteil. Als sie von einem Stapel Post aufschaut, sehe ich, dass sie Mitte bis Ende fünfzig ist und sich ein paar dichte honigblonde Locken aus dem Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst haben, die einen seltsamen Kontrast zu ihrem dünnen grauen Pony bilden.
Sie richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf den obersten Umschlag, nimmt ihn in die Hand und hält ihn gegen das Licht, dann holt sie ein schmales Messer aus einem Becher neben dem Computer und fährt mit der Klinge unter die Klappe, um ihn zu öffnen. Sie zieht den Brief heraus und liest ihn, bevor sie ihn wieder zurück in den Umschlag steckt.
Kann es sein, dass sie mich gar nicht bemerkt hat? Im Zweifel für den Angeklagten, denke ich und räuspere mich vernehmlich.
»Name?«, bellt sie mich an.
»Äh, Maz.« Ich spüre, wie sich meine Stirn runzelt. »Ich bin Maz Harwood.« Ich trete einen Schritt vor und strecke die Hand aus. »Sie müssen Frances sein. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Der Name Ihres Haustiers?«, fährt die Frau ungeduldig fort.
»Ich habe kein Haustier.«
»Dann sind Sie hier falsch. Das ist eine Tierarztpraxis. Verschwenden Sie nicht unsere Zeit.«
Das Licht der Leuchtstoffröhre über meinem Kopf wird schwächer, flackert kurz und leuchtet dann wieder heller.
»Ich bin keine Kundin«, sage ich, von ihrer nicht gerade herzlichen Art etwas eingeschüchtert. »Ich bin die Vertretung. Die Tierärztin. Emma erwartet mich.« Ich mache Anstalten, am Empfangstresen vorbei in den dahinterliegenden Flur zu gehen.
»Bleiben Sie stehen!«, bellt Frances erneut. »Da dürfen Sie nicht rein – zu den hinteren Räumen haben nur Praxisangehörige Zutritt.«
»Aber das bin ich doch.«
»Erst ab morgen, wenn ich mich nicht irre. Setzen Sie sich. Ich sage Emma, dass Sie da sind, allerdings warne ich Sie – es könnte sein, dass Sie ungelegen kommen.«
Um Frances nicht gleich von Anfang an gegen mich aufzubringen, setze ich mich hin. Aus sicherer Entfernung beobachte ich, wie sie auf die Tasten ihres Telefons einsticht.
Ein paar Minuten später erscheint Emma in OP-Kittel und Handschuhen im Türdurchgang. »Hallo, Maz.« Ausgelassen hüpft sie auf mich zu und umarmt mich zur Begrüßung. »Ich bin so froh, dich zu sehen.« Dann lässt sie mich wieder los und dreht sich zu Frances um. »Ich hoffe, Sie haben unsere neue Tierärztin herzlich willkommen geheißen.«
»Natürlich«, antwortet Frances und lächelt Emma an.
»Ist die zweite Post schon da?«
Frances greift nach dem geöffneten Umschlag.
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