Stadt, Land, Mord - Granger, A: Stadt, Land, Mord - Mud, Muck and Dead Things
klappernde Blechdach, durch dessen große Löcher Regen und Tageslicht ins Innere fielen. Er war nicht nur einfach an einem anderen Ort, sondern auch in einer anderen Zeit, die zu einer verschwundenen Kultur gehörte. Er war durch den Spiegel getreten. Er spürte einen Anflug von etwas, das er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte – Panik – und wandte sich um in Richtung Tageslicht und dem vertrauten Universum, das er so unbedacht verlassen hatte.
Beinah hatte er den Ausgang erreicht und damit die Sicherheit (wie sein Verstand ihm beharrlich weiszumachen versuchte), als er den merkwürdigen Haufen auf dem Boden zu seiner Linken bemerkte. Er musste beim Hereinkommen fast darauf getreten sein, doch seine Augen hatten sich noch nicht an das Dämmerlicht gewöhnt, und er hatte ihn nicht gesehen. Er stockte. Das Gefühl von Panik wuchs zu einem Klumpen in seinem Bauch. Übelkeit stieg in ihm auf.
»Sei kein verdammter Narr!«, schalt er sich. »Das ist nur ein Haufen Müll wie alles andere.«
Doch er fühlte sich von dem Haufen angezogen wie von einer magnetischen Kraft. Er musste ihn untersuchen, und wenn nur aus dem einen Grund, sich zu beweisen, dass nichts dahintersteckte und seine Angst unbegründet war. Jetzt stand er direkt davor. Ja. Nur ein alter Mantel. Was ist bloß los mit dir, Lucas? , schalt er sich. Siehst du neuerdings Gespenster?
Es war nichts weiter als ein schmutziger, alter, rosafarbener Mantel. Nicht mehr, nicht weniger. Ein Frauenmantel wahrscheinlich, nach der Farbe zu urteilen. Für einen Moment verebbte seine Angst, nur um im nächsten mit Vehemenz zurückzukehren. Der Mantel war gar nicht so alt, wie Lucas im ersten Augenblick geglaubt hatte, und schmutzig war er auch nicht. Nicht annähernd alt und schmutzig genug, um achtlos weggeworfen zu werden. Er gehörte nicht hierher. Das Stück zerrissenes Sackleinen gleich daneben, das schon eher. Aber was hatte ein neuer und obendrein teuer aussehender Mantel hier zu suchen? Warum war der Mantel so achtlos weggeworfen worden?
Seine Schuhe waren inzwischen so schmutzig, dass er sich nicht länger bemühte, sie einigermaßen sauber und trocken zu halten. Er schob einen Fuß vor und schubste den Mantel an. Etwas Schweres, Nachgiebiges lag darunter, das – wie ein weiterer Schubser erkennen ließ – sich bis unter das Sackleinen fortsetzte. Irgendjemand hatte etwas darunter versteckt. Ein größeres Objekt, groß genug, dass Mantel und Sackleinen nötig waren, um es zuzudecken.
Lucas zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Doch er konnte sich nicht abwenden und davonlaufen, sosehr er das wollte. Ein mächtiger Wunsch, den zugedeckten Gegenstand zu untersuchen, stand im heftigen Widerstreit mit einem beinahe genauso starken Widerwillen, ihn zu berühren. Die bloße Vorstellung von physischem Kontakt stieß ihn ab. Er blickte sich suchend um und entdeckte eine alte Heugabel, die vergessen an der Wand einer Stallbox lehnte. Lucas ging sie holen und streckte sie nach dem Sackleinen aus, um es mit den Zinken behutsam hochzuheben und freizulegen, was sich darunter verbarg.
Durchdringend süßlicher Gestank schlug über Lucas zusammen und verdrängte den anhaftenden Geruch nach Vieh. Im Dreck vor ihm lagen zwei Beine in blauen Jeans, die Füße in Turnschuhen.
»Nein, oh nein!«, flüsterte Lucas. »Nein. Das kann nicht sein …« Seine Hand zitterte. »Los, weiter, du Schlappschwanz!«, befahl er sich. Er zielte nach dem Mantel und schleuderte ihn zur Seite, um den Rest des Gebildes am Boden aufzudecken. Plötzlich erfüllte ein Rauschen seine Ohren. Die Wände des Kuhstalls wichen erst zurück und stürzten dann auf ihn ein. Er hatte den Dreck und den Mist erlebt, und jetzt hatte er zu allem Überdruss ein totes Ding gefunden.
Keinen Fuchs, der draußen auf der Straße überfahren und zerfetzt worden war, sondern ein menschliches Wesen, das aus trüben, blutunterlaufenen Augen anklagend zu ihm hochstarrte. Ein Mädchen, ein junges Mädchen. Ihr Unterkiefer war wie im Schrei herabgesunken und gab den Blick frei auf gleichmäßige, weiße Zähne. Die blau angelaufene Zunge quoll ein wenig hervor, und ihre Unterlippe war blutig, als hätte sie sich selbst heftig darauf gebissen.
Lucas würgte und schleuderte die Heugabel beiseite. Er stolperte rückwärts aus dem Kuhstall und torkelte über den Hof zu seinem Mercedes. Ohne auf den an seinen Schuhen klebenden Dreck zu achten, den er nun überall auf dem mit Teppich ausgelegten Fahrzeugboden
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