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Stadt ohne Namen

Stadt ohne Namen

Titel: Stadt ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.P. Lovecraft
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näher untersuchen konnte, drang ein dritter Eindruck auf mich ein, der mich wegen seiner Widersinnigkeit veranlaßte, die Wirklichkeit all dessen, was meine Sinne wahrnahmen, anzuzweifeln. Es war eine Gehörtäuschung; ein Empfinden rhythmischen, melodischen Klanges, wie von einer unheimlichen, dennoch schönen Weise oder einem Choral, der von außen die absolut schalldichte Hülle des U−29 durchdrang. Von meiner psychologischen und nervlichen Anomalität überzeugt, strich ich einige Zündhölzer an und schenkte mir eine steife Dosis einer Bromnatriumlösung ein, die mich so weit zu beruhigen schien, daß sie die Klangillusion zerstreute. Aber das phosphoreszierende Leuchten blieb, und ich konnte nur mit Mühe dem kindischen Drang widerstehen, an das Seitenfenster zu treten und seinen Ursprung auszumachen. Es war grauenhaft realistisch, und ich vermochte mit seiner Hilfe bald die mich umgebenden vertrauten Gegenstände zu unterscheiden, ebenso wie das leere Bromnatriumglas, das ich vorher an seinem Platz nicht hatte sehen können. Dieser Umstand machte mich nachdenklich, und ich durchmaß den Raum und berührte das Glas. Es befand sich wirklich an der Stelle, wo ich es zu sehen geglaubt hatte. Nun wußte ich, 93
    daß das Licht entweder echt oder Teil einer Sinnestäuschung war, so fixiert und beständig, daß ich nicht hoffen konnte, sie zu zerstreuen, weshalb ich, jeden Widerstand aufgebend, den Kommandoturm erstieg um nach der Ursache des Leuchtens zu suchen. Konnte es nicht in Wirklichkeit ein anderes U−Boot sein, das Aussicht auf Rettung bot? Es wird gut sein, wenn der Leser nichts von dem, was folgt, als objektive Wahrheit nimmt, denn seit die Ereignisse die Grenzen der Naturgesetze überschreiten, sind sie notgedrungen die subjektiven und unwirklichen Erzeugnisse meines überreizten Geistes. Als ich den Kommandoturm erreichte, fand ich das Meer im allgemeinen viel weniger leuchtend, als ich erwartet hatte. Nirgends war ein tierisches oder pflanzliches Leuchten, und die Stadt, die sich zum Fluß hinunterzog, war in der Schwärze unsichtbar. Was ich sah, war weder großartig noch grotesk oder erschreckend, dennoch kostete es mich den letzten Rest des Vertrauens in meinen Bewußtseinszustand. Denn die Türen und die Fenster des aus dem felsigen Hügel herausgehauenen Tempels erglühten lebhaft in flackerndem, strahlendem Glanz, wie von einer mächtigen Altarflamme tief im Innern.
    Die späteren Ereignisse sind verworren. Als ich die unheimlich erleuchtete Tür und die Fenster anstarrte, unterlag ich den ausgefallensten Visionen − Visionen, derart ausgefallen, daß ich sie nicht einmal schildern kann. Ich bildete mir ein, daß ich im Tempel Objekte erkennen konnte, Objekte, teils stehend, teils bewegt, und schien von neuem den unwirklichen Gesang zu hören, der auf mich eingedrungen war, als ich erwachte. Und über alldem stiegen Gedanken und Ängste empor, die sich auf den Jüngling aus dem Meer und das Elfenbeinbild verdichteten, dessen Abbild auf dem Fries und den Säulen des Tempels vor mir wiederkehrte. Ich gedachte des armen Klenze und fragte mich, wo sein Körper das Bildnis, das er ins Meer zurückgebracht hatte, wohl ruhen mögen. Er hatte mich vor etwas gewarnt − und ich hatte es nicht beachtet −, aber er war ein schwachköpfiger Rheinländer, der über Unannehmlichkeiten verrückt wurde, die ein Preuße ohne weiteres ertragen kann.
    Der Rest ist einfach. Mein Drang, den Tempel aufzusuchen und zu betreten, ist nun ein unerklärbarer und gebieterischer Befehl geworden, dem ich mich letzten Endes nicht widersetzen kann. Mein eigener Wille kontrolliert meine Handlungsweise nicht mehr, und freie Entscheidung ist von jetzt an nur noch in kleinen Dingen möglich. Es war dieser Wahnsinn, der Klenze barhäuptig und ungeschützt aufs Meer hinaus in den Tod trieb; ich aber bin ein Preuße und ein Mann von gesundem Menschenverstand, und ich werde bis zum Letzten das bißchen verbliebenen Willens gebrauchen. Als ich zuerst erkannte, daß ich gehen muß, bereitete ich meinen Taucheranzug, den Helm und den Lufterneuerer zum schnellen Anlegen vor und begann sofort, diese gedrängte Chronik niederzuschreiben, in der Hoffnung, daß sie eines Tages die Welt erreichen möge. Ich werde das Manuskript in eine Flasche einschließen und es dem Meere anvertrauen, wenn ich U−29 für immer verlasse.
    Ich habe keine Furcht, nicht einmal vor den Prophezeiungen des wahnsinnigen Klenze. Was ich gesehen habe, kann nicht

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