Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
verloren allerdings jeden Tag 58 Minuten Lebenszeit durchs Pendeln (Zeit ist Geld!) und damit an Wohlbefinden (Zeit ist Lebensqualität!) (s. Kapitel 7).
Ich startete mein Berliner Leben als Thirtysomething daher im Innenstadtbezirk Wilmersdorf. Schön großstädtisch – aus Münchner Sicht. Aber mir schien, ich lebte allein unter Senioren, und lernte: Man zieht als gerade noch junger Mensch nicht nach Wilmersdorf. Also kam wieder der Tag, an dem ich anfing, Zettel an Lampenmasten zu kleben und Telefonnummernschnipsel von solchen Aushängen abzureißen. Die Großstadt setzt dem Wünschen keine Grenzen. Wieder Bäder anschauen, Verträge unterschreiben, Sachen ein- und auspacken.
Es folgten weitere Wohnungen, Freunde schimpften, in ihren Notizbüchern sei kein Platz mehr für neue Adressen, doch es geht halt immer noch schöner, sonniger, günstiger, näher dran an den Freunden oder dem Job oder was auch immer. Nichts Ungewöhnliches, neun Prozent der Berliner ziehen jährlich um. Ich arbeite am Schnitt ordentlich mit.
Nun lebe ich in Kreuzberg, Hinterhaus, dritter Stock. Vor dem Schlafzimmer hat sich ein Ahornbaum Platz geschaffen. Der einzige Lärm, der mich wecken kann, ist das Keckern der Elstern im Geäst. Ein typisches Berliner Haus: Unten wohnt mit Gärtchen ein mittelaltes Ehepaar, darüber ein schwules Paar, ein Deutscher und ein Brasilianer, daneben eine Chinesin mit ihrer erwachsenen Tochter; darüber eine Alleinerziehende, deren zweite Tochter gerade ausgezogen ist; daneben eine junge Alleinerziehende mit Partner; darüber zwei Singlefrauen, ich und meine Nachbarin; über uns ein Singlemann, daneben eine Alleinerziehende mit zwei kleinen Kindern, und ganz oben noch ein Ehepaar. Das klingt bunt und international (s. Kapitel 8). Wir finden es normal.
Rund die Hälfte aller deutschen Großstadtwohnungen wird von Singles bewohnt – aber einsam sind diese Singles nicht zwangsläufig. Es ist ein Irrtum anzunehmen, wer allein lebt, sei einsam oder auch nur einsamer als andere. Ohnehin ist sich einsam zu fühlen ein Seelenzustand, der mit der Wohnform nichts zu tun hat. Man kann in einer Zweierbeziehung entsetzlich einsam sein, kann in einer Familie vereinsamen und sich in einem WG -Zimmer die Augen aus dem Kopf heulen vor lauter Einsamkeit. Mit der Wohnung hat das nur bedingt zu tun.
Der allein wohnende Großstadtmensch kann jedenfalls den Vorteil für sich verbuchen, dass er mit seiner Singlewohnung kein Exot ist. Allein in einer Mietwohnung zu wohnen ist in der Stadt eine gängige Lebensform. Man teilt diese mit vielen, es ist so normal und akzeptiert wie auf dem Dorf das Einfamilienhaus mit Garten. Man ist nicht anonym, man hilft sich unter Nachbarn, versorgt Post und Blumen, klingelt, wenn man etwas braucht oder sich Sorgen macht, weil der Briefkasten überläuft.
Wem nur wohnen aber zu wenig ist, wer ökologisch weiterdenkt und Gemeinschaft leben will, kann Neues wagen, wie die Bewohner des Hauses in der Berliner Wönnichstraße 104.
Das Wohnprojekt
Immer mehr Menschen wollen ökologisch, sozial und generationsübergreifend wohnen, so wie die Berliner, die in einem Mietshaus in Lichtenberg zusammengefunden haben. »Städte ändern sich«, sagt der Stadtsoziologe Daniel Kubiak. Doch, so fügt er an: »Städte dürfen sich nicht nur zum Geld hin entwickeln, Wohnprojekte ohne Immobilienspekulation und mit ökologischem Hintergrund müssen entstehen.« In Berlin sei das Leben in der Innenstadt noch für eine bunte Mischung an Menschen möglich, noch habe die Abwanderung in die Banlieus nicht begonnen. »Aber wer in einem gefragten Viertel aus einer günstigen Wohnung auszieht, läuft Gefahr, sich dort nie wieder eine Bleibe leisten zu können.« Diesen Prozess gelte es zu stoppen. Darum geht es den »Lichten Weiten«, einem Verein aus Mietern, die nach genossenschaftlichem Modell dieses mehrstöckige Haus in Lichtenberg bewohnen. Hier lebt auch Kubiak mit Freundin und Kind. Fünfzehn Erwachsene und ihre sechs Kinder, eine Hausgemeinschaft im Alter von neun Monaten bis einundachtzig Jahren residiert hier mit viel Privatsphäre, aber auch viel Raum und Räumen für Gemeinschaft.
Vom Dach des Hauses in der Wönnichstraße kann man weit schauen, vom Grünstreifen der Rummelsburger Bucht zum Heizkraftwerk Klingenberg und zur Kugel des Fernsehturms am Alexanderplatz. Doch die Aussicht bleibt ungenutzt, keine Terrasse mit Teakholzplanken und Olivenbäumen macht sich breit. »Es war klar, was aufs Dach muss,
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